Freund, Nadine, Teil der Gewalt. Das Regierungspräsidium Kassel und der Nationalsozialismus, hg. vom Regierungspräsidium Kassel (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 85). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2017. X, 646 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die 1978 geborene, ihre geschichtswissenschaftliche Ausbildung an der Universität Kassel 2015 mit einer Dissertation über die Verwaltungsjuristin und Politikerin Theanolte Bähnisch (1899-1973) abschließende Verfasserin benennt als vorrangiges Ziel ihrer vorliegenden Arbeit 1) die Faktoren aufzuzeigen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus in dem Regierungsbezirk Kassel und in der Behörde des Regierungspräsidiums selbst begünstigten, 2. zu beschreiben, welche Rolle das Regierungspräsidium in dem Prozess der auf Kontrolle, Unterdrückung, Gewalt und Freiheitsberaubung setzenden Machtsicherung der Nationalsozialisten spielte, 3. die Beteiligung des Regierungspräsidiums Kassel an der schließlich in dem Holocaust mündenden Judenverfolgung zu klären und dabei den Umstand zu berücksichtigen, dass ein Oberregierungsrat (Fritz Hoch) mit jüdischen Wurzeln sich in der Behörde bis 1945 halten und danach weiter aufsteigen konnte, 4. die Rolle der Behörde in dem Verwaltungsaufbau des nationalsozialistischen Staates darzustellen und 5. auch die leitenden Beamten der Behörde zu betrachten. Dabei folgt sie insgesamt fünf Thesen, die auch eine auffällige Elitenkontinuität einschließen.
Gegliedert ist das aufschlussreiche und gewichtige, erstmals neben dem bisher berücksichtigten schmalen Material weitere Quellen auswertende Werk nach einer Einleitung und vor einer Schlussbetrachtung in fünf Abschnitte. Sie betreffen das Erbe der Monarchie und den Aufstieg des Nationalsozialismus, die veränderte Ausrichtung des Staatsschutzes in der Machtphase unter besonderer Berücksichtigung der geheimen Staatspolizei, das Regierungspräsidium zwischen bekannten und neuen, durch die Politik veränderten Herausforderungen, die Partei, den Staat und die Judenfrage sowie Karrierehemmnisse, Karrieremotoren, Verantwortung und Elitenkontinuität. In diesem Rahmen werden insbesondere die Abteilungsleiter und andere zentrale Mitarbeiter näher betrachtet.
In ihrer ausführlichen Schlussbetrachtung stellt die Verfasserin fest, dass die letzte und endgültige Zuarbeit von Behörden in dem Regierungsbezirk Kassel zu dem Holocaust in den arbeitsteilig organisierten Deportationen jüdischer Bürger aus dem Bezirk in Richtung Osten in die Durchgangslager und Vernichtungslager bestand, wobei das Regierungspräsidium als Einziehungsbehörde und damit als Teil der Gewalt beteiligt war. Zwischen 1933 und 1935 arbeitete die Behörde eng mit der Gestapo-Stelle Kassel zusammen. Die scheinbaren Gegensätze zwischen den beiden von der Verfasserin in ihren Arbeiten behandelten Personen Hoch und Bähnisch, die sich für die Demokratie engagierten bzw. Personen der eigenen Berufsgruppe mit zumindest fragwürdiger Vergangenheit unterstützten, erklärt die Verfasserin an dem Ende ansprechend mit dem starken Gruppenzusammenhalt unter preußischen Verwaltungseliten, zu dem die gegenseitige Zusicherung gehörte, dass alle an der Umsetzung der antisemitischen Gesetzgebung beteiligten Menschen für die Juden immer nur das Beste gewollt hätten, wodurch sich lange der Mythos aufrecht erhalten ließ, die Berufsgruppe habe stets in Opposition zu den Nationalsozialisten gestanden und das System zu unterwandern versucht, weshalb die Verfasserin schließlich Hoch überzeugend als aktiven Verteidiger und zugleich als Gefangenen der Selbstverteidigungsstragie seiner eigenen Berufsgruppe einstuft.
Innsbruck Gerhard Köbler