Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR). Serie II Antiqua, hg. v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv, Band 4 Karton 278-424., hg. v. Sellert, Wolfgang, bearb. v. Schenk, Tobias. Erich Schmidt, Berlin 2017. 650 S. Besprochen von Karsten Ruppert.
Der Kaiserliche Reichshofrat wird üblicherweise als das zweite höchste Gericht des Alten Reiches neben dem ständischen Reichskammergericht bezeichnet. Doch trifft diese selbst in der Forschung immer wieder verwendete Bezeichnung das Wesen dieser Einrichtung nicht im Kern. Denn sie war weitaus mehr als ein Gericht; sie wird vielleicht am treffendsten als die Einrichtung verstanden, welche die nie endgültig und umfassend festgelegten kaiserlichen Reservatrechte ausübte. Das waren neben der Rechtsprechung unter anderem Lehns-, Gratial-, und Standessachen, Privilegierungen, Legitimierungen, Vormundschafts- und Unterhaltsfragen sowie Schutz- und Schirmbriefe. Eine Sonderstellung hatte der Reichshofrat auch noch dadurch, dass er bei Überschuldung von Reichsständen „Debitkommissionen“ einsetzen konnte, die den Konkurs abwickelten. Eine Nachwirkung des mittelalterlichen Verständnisses vom Amt des Kaisers spiegeln die zahlreichen Suppliken, mit denen sich die Untertanen direkt an ihn wandten. Sie beklagten sich über ungerechte Urteile, Prozessverschleppungen, auch am Reichskammergericht, und übermäßige Belastungen der unterschiedlichsten Art. Und nicht zuletzt war das Gremium auch als beratendes Regierungsorgan tätig; das schlägt sich in dem vorliegenden Band allerdings nicht nieder. Die Wirkungsmöglichkeiten des Reichshofrats waren also hinsichtlich seiner Kompetenzen umfassender als die des Reichskammergerichts. Diese erstreckten sich hinsichtlich der Zuständigkeit darüber hinaus auch noch auf das ganze Heilige Römische Reich Deutscher Nation, also auf das gesamte heutige Mitteleuropa einschließlich Norditaliens. Und schließlich war der Reichshofrat immer dann, wenn die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts wieder einmal zum Erliegen kam, das einzige Reichsgericht.
Einen weiteren Vorteil hatte der Reichshofrat gegenüber dem Reichskammergericht noch dadurch, dass sein Verfahren schneller und effektiver war. Die Rechtsprechung beider Gerichte krankte allerdings daran, dass die Möglichkeiten, ihre Urteile zu exekutieren, begrenzt waren. Daher zog es besonders der Reichshofrat vor, Rechtsstreitigkeiten diplomatisch oder politisch zu schlichten. Hierfür ernannte er meist Kommissionen vor Ort, deren Hauptziel ein Ausgleich zwischen den streitenden Parteien und deren gütliche Einigung war.
Wegen der Bedeutung der Einrichtung und deren fast geschlossener Überlieferung von geschätzten 1.500 Aktenmetern im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv ist es in der Forschung stets als Missstand empfunden worden, dass die Erschließung der Akten der ständischen Konkurrenzeinrichtung zügig voranschritt, während sich der Kenntnisstand über die kaiserliche Institution auf einige Untersuchungen und ein Standardwerk von 1942 reduzierte. An dieser unbefriedigenden Forschungslage änderte sich erst etwas, als es dem Herausgeber 1999 gelang, die Finanzierung zur Aufarbeitung der Akten des Reichshofrats zu sichern und das gewaltige Projekt an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen anzubinden in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Staatsarchiv und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bzw. dann der Universität Wien.
Allen Beteiligten war klar, dass es angesichts der Masse nur um deren Erschließung gehen könne. Ein Entscheidung, die allein schon dadurch gerechtfertigt wird, dass die älteste Serie der Reichshofratsakten, die „Alten Prager Akten“, zwischen 2009 und 2014 in erstaunlich rascher Zeit in 5 Bänden erschlossen werden konnte. Sie umfassen vor allem die Judizialakten des 16. Jahrhunderts, die ihnen folgenden „Antiqua“ die des 17. Die seit 2010 bearbeitete Serie umfasst insgesamt 1.077 Kartons, von denen mit dem anzuzeigenden vierten Band schon fast die Hälfte bearbeitet wurde. Die Serien sind alphabetisch geordnet nach den Namen der Kläger bzw. Antragsteller. In der Antiqua Serie allerdings beginnen die Akten erst mit dem Kläger Buchstaben „H“, da im späten 18. Jahrhundert die Kläger mit den Buchstaben A bis G in eine andere Serie eingeordnet worden sind. Daher erfasst der 4. Band auch schon alle Kläger und Antragsteller mit den Buchstaben „M“ und „N“.
Der vierte Band ist ebenfalls wie alle anderen alphabetisch nach den Namen der Kläger bzw. Antragsteller oder Supplikanten aufgebaut. Die Erschließung der einzelnen Akten bzw. Vorgänge, insgesamt erfolgt sinnvollerweise in Anlehnung an die Grundsätze für die Verzeichnung der Reichskammergerichts-Akten. Der Benutzer erhält in den gleich aufgebauten Verzeichnissen neben archivalischen Nachweisen vor allem Auskunft über Kläger und Beklagte, wobei jeweils versucht wurde, Stand und Herkunft zu ermitteln; dazu über die Laufzeit des Verfahrens, Vorinstanzen so wie die in der Sache tätigen Agenten. Die historisch interessantesten und meist auch umfangreichsten Rubriken informieren über den Gegenstand des Verfahrens und die Entscheidung des Reichshofrats. Nur noch verwiesen wird auf die historisch nicht weniger relevanten beiliegenden Beweisstücke wie Kopien von Urkunden von Kaisern, Königen, Päpsten und Privaten, wie Verträge, Steuerunterlagen, Beschlüsse der unterschiedlichsten Gremien, Edikte, Polizeiordnungen, Erbverträge u. ä. Gerade durch diese Beilagen werden die Prozesse nicht allein für die Rechts- und Verfassungsgeschichte, sondern auch für die Wirtschafts-, Sozial-, Regional- und Familiengeschichte eine unverzichtbare Quelle.
Es macht den Reiz dieser Edition aus, dass vor dem Reichshofrat Mitglieder aus dem gesamten Spektrum der frühneuzeitlichen Gesellschaft ihr Recht suchten: vom Kurfürsten bis zum kleinen Bauern und dass die Fälle und Suppliken alle Bereiche der Politik, des Rechts, des Militärs, der Wirtschaft, der Gesellschaft und nicht zuletzt des Alltagslebens spiegeln.
Territorial liegt ein Schwerpunkt dieses vierten Bandes der „Antiqua“ auf der Landesgeschichte von Westfalen. Darunter der interessante Fall der Grafschaft Schaumburg, auf die das Hochstift Minden Ansprüche erhob, nachdem mit dem Tod Ottos V. 1674 die Linie erloschen war. Dem Buchstaben „M“ ist es geschuldet, dass zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof von Münster mit seinem Domkapitel und der Stadt Münster um Hoheitsrechte, materielle Belastungen und Religionsfragen, unter anderem die Bekämpfung der Täufer, zu finden sind. Ein bedeutender Rechtsfall war auch der Versuch Kurbrandenburgs und Pfalz-Neuburgs, die Stadt Mühlheim zu befestigen und sie zu einem Handelsplatz mit Erhebung von Zöllen zum Nachteil der Reichsstadt Köln auszubauen. Zahlreiche Auseinandersetzungen der Herzöge von Mecklenburg mit ihren Ständen sind darüber hinaus hier zu finden. In diesem Band kann aber auch studiert werden, welche wirtschaftlichen Folgen die Reformation hatte. Und dies gerade in Grafschaft und Stadt Mansfeld, aus der ja der Vater Martin Luthers stammte. Der Mansfelder Bergbau, das spiegeln die zahlreichen Prozesse, war im 16. Jahrhundert niedergegangen, weil sich die fünf Grafen aufgrund unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen heillos zerstritten hatten.
Hart durchgegriffen hat eine vom Reichshofrat eingesetzte Kommission in der Stadt Mühlhausen, wo sich Bürger gegen den Stadtrat erhoben hatten. Sie fällte im Namen des Kaisers mehrere Todesurteile. Solch drastische Strafen waren aber die Ausnahme in den Verfahren des Reichs. Besonders häufig wird auch gegen Landfriedensbrüche, Einquartierungen und Verletzung des Besatzungsrechts geklagt. Ermäßigung von Steuern, Religionssachen, verweigerte Justiz, Verletzung obrigkeitlicher Rechte und insbesondere Klagen wegen Geldforderungen der verschiedensten Art wie auch Erbrechtsfälle nehmen einen großen Teil der Arbeit des Reichshofrats im 16. und 17. Jahrhundert ein. Seltener werden die nicht uninteressanten verfassungsgeschichtlichen Fälle behandelt: der Streit wegen einer Stimmabgaben im Reichsfürstenrat, ein Gesuch zur Verleihung von Sitz und Stimme im Reichstag, die Bindung der Ratsfähigkeit in den Städten an ein dreijähriges juristisches Studium. Ein Tübinger Professor klagte sogar auf die Wiedereinsetzung in seinen Lehrstuhl.
Auch dieser Band bestätigt, dass der Reichshofrat vor allem durch die Einsetzung von Kommissionen versuchte, Entscheidungen herbeizuführen. Angesichts der fehlenden Exekutive des Kaisers ja auch ein naheliegendes Verfahren. Denn mit ihm wurden die starken Reichsstände vor Ort damit beauftragt, auf der vom Reichshofrat vorgegebenen Linie mit den streitenden Parteien zu einem Kompromiss zu finden. Immer mal wieder hat der Reichshofrat auch den Geheimen Rat unter dem Vorsitz des Kaisers um eine Entscheidung gebeten. Schon weitaus häufiger wurde er von Parteien, die im Reich unterschiedliche gerichtliche oder streitige Auseinandersetzungen führten, um kaiserliche Fürbittschreiben zugunsten ihrer Sache angegangen. Erstaunlich ist auch, dass sich einige Parteien, deren Sache am Reichskammergericht anhängig gewesen war, um Revision von dessen Urteilen an den Reichshofrat wandten.
Ausführliche und zuverlässige Verzeichnisse der Reichshofratsagenten, der Vorinstanzen, der Orts- und Personennamen wie auch der Sachen runden zusammen mit einer Konkordanz der Aktensignaturen den Band ab. Ob man noch unbedingt eine chronologische Konkordanz braucht, die erschließt, welche Sache in einem bestimmten Jahr anhängig war, ist fraglich.
Wie alle bisherigen edierten Bände der Akten des Reichshofrats so ist auch dieser vierte Band der „Antiqua-Serie“ ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über die Geschichte, die Verfassung und das Recht des Heilige Römische Reichs (und auch Europas) in der Frühen Neuzeit. Schon zeichnet sich ab, dass die Anzahl der vom Reichshofrat produzierten Judizialakten die des Reichskammergerichts übersteigen dürfte. Schon allein der Umfang der Tätigkeit des Reichshofrats, doch nicht weniger deren gerade durch die Erschließung deutlicher werdende Qualität werten dieses Instrument der kaiserlichen Exekutive erheblich gegenüber dem Reichskammergericht auf. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass diese in jeder Hinsicht verdienstvolle Dokumentation die Arbeit des Reichshofrats gerechter würdigen wird. Denn es ist allzu lange vergessen worden, was er letztlich doch wohl war: die neben dem Reichstag wichtigste Institution des Alten Reiches in der Frühen Neuzeit.
Römerberg/Eichstätt Karsten Ruppert