Deák, István, Kollaboration, Widerstand und Vergeltung im Europa des Zweiten Weltkrieges, aus dem Ungarischen übersetzt v. Schmidt-Schweizer, Andreas. Böhlau, Wien 2017. 367 S., 12 Abb., 5 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als Hitlers Armeen erfolgreich den Großteil Europas besetzt hatten, stellte sich für die jeweiligen Gemeinwesen wie auch für jedes Individuum die Frage nach dem angemessenen Umgang mit dieser Situation. Jeweils unterschiedliche Rahmenbedingungen eröffneten unterschiedliche Spektren, die wiederum eine Vielzahl möglicher Handlungsmuster zuließen. Die im Titel aufgeführten Termini Kollaboration, Widerstand und Vergeltung, ergänzt um den allgemeineren Begriff der Anpassung, stehen damit in der Lebenswirklichkeit für differenzierte, im Fluss befindliche Phänomene, deren vergleichende Betrachtung beispielsweise deutliche Unterschiede für den Westen und den Osten Europas zutage fördert. Zugleich kann man generell festhalten, dass – dem Gesetz der Opportunität folgend – mit dem Abzeichnen der deutschen Niederlage die Kollaborationsbereitschaft naturgemäß zurücktrat und widerständige Aktivitäten massiv anwuchsen, wobei sich dabei gar nicht so selten dieselben Akteure hervortaten. „(V)iele der Pariser Polizisten, die im August 1944 auf sich zurückziehende deutsche Soldaten schossen, (hatten) vielleicht zwei Jahre davor jüdische Frauen und Kinder ins Vélodrome d’Hiver getrieben, von wo sie nach Auschwitz transportiert wurden“ (S. 321). Der Verfasser spricht in der Einleitung insgesamt von einer „zum Verzweifeln komplexe(n) Reihe von Geschehnissen“, die „eine außerordentliche Wirkung auf Europa, aber auch auf unser gegenwärtiges Leben ausgeübt“ habe und ausübe und nichtsdestotrotz bislang wissenschaftlich noch nicht im Zusammenhang bearbeitet worden sei (S. 38). In Ermangelung umfassender statistischer Daten zur Zahl der Kollaborateure und der Mitglieder des Widerstands insgesamt und in den verschiedenen Ländern seien diesbezüglich Erkenntnisse aus konkreten Beispielen abzuleiten.

 

István Deák, Jahrgang 1926 und Emeritus für neuere mitteleuropäische und osteuropäische Geschichte, hat die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs in seiner ungarischen Heimat noch miterlebt. 1948 verließ er im Zuge der kommunistischen Machtergreifung Ungarn, 1956 ging er in die Vereinigten Staaten, wo seine langjährige wissenschaftliche Laufbahn bei dem gleichaltrigen, im Vorjahr verstorbenen Fritz Stern an der Columbia University New York ihren Ausgang nahm. Mit auf jahrzehntelanger akademischer Forschungs- und Lehrtätigkeit aufbauender Expertise hat er sich im fortgeschrittenen Alter dieses anspruchsvollen Desiderats angenommen. Seine Analyse schaltet zunächst einen historischen Rückblick auf die Besatzungspraxis seit dem Dreißigjährigen Krieg, auf die Ansätze zur Humanisierung und Regelung der Kriegsführung und die Dynamik ethnischer Säuberungen vor. Den Zweiten Weltkrieg samt Vorgeschichte teilt sie grob in drei Phasen: eine erste von 1938 bis Juni 1941, in der „die meisten Europäer die unaufhaltbar erscheinende deutsche Expansion (akzeptierten) und sich entschieden, die deutsche Hegemonie zu ertragen“; eine zweite mit Beginn des „Unternehmen(s) Barbarossa“, das „gleichermaßen ein militärischer Feldzug, ein gnadenloses Kolonisationsabenteuer und ein ideologischer Kreuzzug war“ und nun vor allem den entschiedenen Widerstand der Kommunisten auf den Plan rief; schließlich eine dritte mit der Kapitulation der deutschen 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943, welche die gestiegene Wahrscheinlichkeit einer deutschen Niederlage plakativ sichtbar werden und „Widerstandsaktivitäten aller Art“ als „nützlich und sogar existentiell notwendig, um den Alliierten zum Sieg zu verhelfen“, erscheinen ließ (S. 55).

 

Kollaboration war demnach vorrangig ein dominierendes Phänomen der ersten zwei bis drei Kriegsjahre mit starken nationalen Unterschieden. Dabei wird der Blick zunächst auf Österreich, die Tschechoslowakei und Polen gerichtet, sodann auf Norwegen, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Belgien, die Kanalinseln – einen besonders interessanten Ort der Anpassung und Kollaboration – und auf den Balkan. Mit dem Angriff auf die Sowjetunion wird die osteuropäische Kollaboration thematisiert, ebenso wie die bemerkenswerte Tatsache, „wie viele unabhängige Staaten – wie Italien, Ungarn, Rumänien, die Slowakei, Bulgarien und Kroatien – 1940/1941 beschlossen, auf Seiten Deutschlands in den Krieg einzutreten. […] Mögliche Gründe für ihre Mitwirkung waren die Furcht vor Hitlers Gewalttätigkeit, der Wettstreit der Konkurrenten um die Gunst der Nationalsozialisten, die Furcht, bei territorialen Eroberungen zu spät zu kommen, sowie die Wertschätzung gegenüber der intellektuellen Überlegenheit der Deutschen. Die meisten dieser Staaten teilten zudem den Antisemitismus der Nationalsozialisten, hassten den Kommunismus, begeisterten sich für irgendeine Variante der nationalsozialistischen oder faschistischen Ideologie und hofften auf die Verwirklichung ihrer nationalen Ziele unter deutscher Hegemonie“ (S. 120). Untereinander herrschten jedoch, wie gezeigt wird, erhebliches Misstrauen und handfeste Interessensgegensätze vor.

 

In der Phase des deutschen Niedergangs wird dann der sich erst „schrittweise aus dem Nichts“ (S. 169) entwickelnde, nun erheblich anschwellende Widerstand zunächst in Westeuropa, sodann in Osteuropa, Südeuropa und Südosteuropa eingehend behandelt. Dabei ergibt sich im Detail eine Reihe interessanter Befunde, etwa dass wider Erwarten „der relativ gering entwickelte Antisemitismus in den Niederlanden die Überlebenschancen der Juden nicht […] verbesserte“, aber vielmehr die „in der niederländischen Gesellschaft vorherrschende Mentalität von Recht und Ordnung“ die holländischen Juden bewog, den Anordnungen der Behörden zu gehorchen, was dann fataler Weise die im Vergleich mit anderen westeuropäischen und nordeuropäischen Staaten höchste Todesquote von 80 Prozent nach sich gezogen habe (S. 184). Der Verfasser unterstreicht unter anderem, dass der Widerstand in Westeuropa und Nordeuropa durch Missachtung der in der Haager Konvention niedergelegten Gehorsamspflicht gegenüber den Besatzungsbehörden internationale Abkommen verletzte, da sich die Besatzer dort zunächst keiner schweren Verbrechen schuldig gemacht hätten. „Zu derartigen Aktionen kam es erst nach dem Beginn des gewaltsamen Widerstands und der SOE-Aktivitäten [SOE = Special Operations Executive, eine europaweit agierende britische Sabotageorganisation zur Unterstützung von Widerstandsbewegungen; W. A.], die beide Vergeltung provozierten. Von da an, im Wesentlichen seit Sommer 1941 und verstärkt ab 1943, setzten beide Seiten in zunehmendem Ausmaß rechtswidrige Handlungen“ (S. 200). In Polen „finden sich wenig Belege für eine Solidarität zwischen den verschiedenen polnischen Widerstandsgruppen während der deutschen Besatzung. Die ethnischen, politischen, regionalen und berufsmäßigen Gruppen schützten in erster Linie ihre eigenen Mitglieder“ (S. 219), auch der Nutzen des Warschauer Aufstands 1944 wird zwiespältig bewertet. In den besetzten Gebieten der Sowjetunion wiederum „nahmen der Widerstand gegen die Deutschen ebenso wie die Gegenmaßnahmen schnell gewaltige Ausmaße an und wurden von allen Seiten mit äußerster Brutalität geführt. […] Weder die Partisanen noch ihre Jäger übten in diesem Kampf die geringste Zurückhaltung (S. 224). Differenzierte Fallstudien zu den so prominenten wie umstrittenen Massakern in den Ardeatinischen Höhlen (Italien), von Oradour-sur-Glane (Frankreich) und Novi Sad (damals Ungarn, heute Serbien) illustrieren die komplexen Mechanismen zwischen Widerstand und Vergeltung inklusive der rechtlichen und sozialen Implikationen, bevor eine Betrachtung des Kriegsendes (in diesem Zusammenhang wird auch der Stellenwert der Verschwörung vom 20. Juli 1944 im Kontext des deutschen Widerstandes diskutiert) diesen Themenkomplex abrundet.

 

Zu beachten gilt, dass István Deáks Studie im englischen Original (2015) wie auch in den mittlerweile erschienenen ungarischen und slowenischen Übersetzungen den vielsagenden Titel „Europe on Trial“ trägt, der ein starkes Interesse am rechtlichen Aspekt und der juristischen Aufarbeitung der Thematik signalisiert. In diesem Zusammenhang sind neben den fortlaufend in den Text eingestreuten juristischen Einschätzungen diverser Verhaltensweisen und den bereits erwähnten Fallstudien vor allem das erste Kapitel („Von der Brutalität zu internationalen Konventionen und zurück zur Brutalität: Besetzungen und Besatzungsherrschaften in der europäischen Geschichte“) und die beiden letzten Kapitel aussagekräftig, die sich mit Recht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeiten im Rahmen der Nürnberger Prozesse und der Rechtsprechung nationaler Gerichte vergleichend auseinandersetzen und die weitere historische Entwicklung über den Kalten Krieg bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgen. Die ganz Europa überziehenden „juristischen Abrechnungen und politischen Säuberungen“ beurteilt der Verfasser dramatisch als „vielleicht zu den größten gesellschaftlichen und demografischen Erschütterungen in der Geschichte zählen(d)“, denn: „Auf den Listen derer, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa – Deutschland nicht mitgerechnet – wegen Landesverrats, Kollaboration und Kriegsverbrechen hingerichtet wurden, finden wir Tausende von Generälen, Polizeichefs, Bürgermeistern, Politikern und Journalisten. Hunderttausende landeten in Gefängnissen und Internierungslagern; Millionen verloren durch Berufsverbote, Umsiedlungen und andere Maßnahmen ihre Existenz. Wenn wir bedenken, dass diese Maßnahmen in Osteuropa vor allem nationale Minderheiten betrafen, die in ihrer Heimat oft die gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite gebildet hatten, zeigt sich, dass diese politischen Säuberungen gleichzeitig ethnische Säuberungen und Maßnahmen des ‚Klassenkampfes‘ waren“ (S. 274f.).

 

Nachweislich hätten schon vor der deutschen Kapitulation diverse Untergrundgerichte, Partisanengerichte und auch das oberste ungarische Volksgericht agiert, womit das verdienstvolle, aber mit „viele(n) Fehler(n) und Widersprüche(n)“ (S. 280) belastete Nürnberger Tribunal „weder ein Vorbild noch ein Katalysator für die Säuberungen in Europa“ gewesen sei (S. 288). Die in den einzelnen Ländern unterschiedlich zusammengesetzten Volksgerichte fällten ihre strengsten Urteile in Norwegen, Dänemark und den Niederlanden; in Österreich, wo man sich „mehr für die (illegale[n]) NS-Aktivitäten vor dem ‚Anschluss‘ interessierte als für etwaige Verbrechen im Kriege“, wurden „prozentual gesehen noch weniger nationalsozialistische Mörder bestraft als in Deutschland“ (S. 293). Inszenierte Schauprozesse hätten nach dem bisherigen Stand des Wissens ausschließlich in der Sowjetunion stattgefunden. Hinsichtlich der politischen Zielsetzungen der Verfahren gebe es signifikante Unterschiede: „In Nürnberg verfolgten vor allem die Amerikaner das Ziel, Aggression für rechtswidrig zu erklären und klarzustellen, dass sie in Zukunft jeden Politiker, der eine Aggression begehen wollte, gnadenlos verfolgen würden“. An anderer Stelle (S. 302) ist so zu lesen, dass der kurzfristige Nachfolger Hitlers, Großadmiral Karl Dönitz, „bis zur Verurteilung Charles Taylors aus Liberia 2012 das einzige Staatsoberhaupt (war), das von einem internationalen Tribunal verurteilt wurde“. Hingegen war das „Hauptziel der Volksgerichte […], eine Katarsis in der Gesellschaft herbeizuführen und ein progressiveres, soziales oder deklariert sozialistisches Europa zu schaffen. […] Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass die europäischen Völker 1945 – anders und umfassender als früher – versucht hatten, mit den unter ihnen lebenden politischen Verbrechern abzurechnen. […] Dabei kam es natürlich auch zu zahlreichen Fehlurteilen und Vergehen gegen Unschuldige; immerhin aber wurden auch viele tatsächlich Schuldige bestraft“ (S. 298f.). Mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und den Frankfurter Auschwitz-Prozessen in den frühen 1960er-Jahren nahm die zwischenzeitlich gewollt eingeschlafene Strafverfolgung wieder Fahrt auf, im Jahrzehnt zwischen 1987 und 1997 war Frankreich Schauplatz der berühmten Prozesse gegen Klaus Barbie, Paul Touvier, René Bousquet und Maurice Papon. Deutsche Gerichte verurteilten noch in jüngster Zeit die in Auschwitz tätigen, mittlerweile jeweils 94-jährigen ehemaligen SS-Angehörigen Oskar Gröning und Reinhold Hanning, denen vorgeworfen wurde, durch ihren Dienst vor Ort den Massenmord befördert zu haben.

 

Der Verfasser schreibt den ausgedehnten Säuberungsmaßnahmen in ihrer Gesamtheit überwiegend positive Folgewirkungen zu. Die Aufnahme des Konzepts der individuellen und kollektiven Verantwortung in die internationale Rechtsprechung, das Bekenntnis zu ordentlichen Strafverfahren anstelle bloßer Vergeltung, die Ächtung von Faschismus und Nationalsozialismus, die Relativierung der absoluten Rechte souveräner Staaten und die Schaffung eines internationalen Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (Genfer Abkommen vom 12. August 1949) seien als Fortschritte zu begrüßen. Andererseits müsse man auch kontraproduktive Entwicklungen registrieren: Die ethnischen Flurbereinigungen durch Ausrottung, Deportation und Flucht im Zuge der Abrechnungen von 1945 in Osteuropa und Südosteuropa hätten „die Region wirtschaftlich, kulturell und moralisch um viele Jahrzehnte“ zurückgeworfen (S. 317) und nach der Überwindung des Kommunismus bedenkliche aggressive Nationalismen erneut aufleben lassen.

 

Der mit 12 Abbildungen in Schwarzweiß, drei Überblicksskizzen und zwei Farbkarten ausgestattete Band verfügt über einen schlanken Endnotenapparat (insgesamt 80 Anmerkungen), eine weitgehend länderbasierte Auswahlbibliographie und – als Besonderheit – ein ebensolches Filmverzeichnis. István Deák bemüht sich, die komplexe Geschichte von Kollaboration, Widerstand und Vergeltung in Europa ihres moralischen Mythos zu entkleiden und auf harte Fakten zu reduzieren, aus denen er die Motive der jeweils Handelnden plausibel zu erklären versucht. Seine gut lesbare Zusammenschau vermittelt bemerkenswerte Einblicke in ein Europa unter deutscher Hegemonie, in die Möglichkeiten, die der historische Wandel den jeweiligen Akteuren eröffnete, und in die Art und Weise, wie sie wahrgenommen und genützt wurden. Ihre Handlungen werden als kaum je von humanitären Gesichtspunkten, sondern primär von Interessen geleitet erkannt, für die im Falle des Falles immer wieder geltendes Recht verletzt worden ist. Vielleicht gerade deshalb verfolgt der Verfasser zugleich das pädagogische Ziel, dem Leser die Erkenntnis der dringenden Notwendigkeit nahezubringen, „Mitgefühl für die Opfer des sich in derartigen historischen Situationen ständig verstärkenden Terrors und Gegenterrors zu entwickeln“ (Vorwort S. 12). Guter Wille und Mitgefühl seien aber Eigenschaften gewesen, „die in Europa während des Zweiten Weltkrieges nicht in übergroßem Ausmaß vorhanden waren“ (S. 321). Ob sich daran heute Grundlegendes geändert hat, ist der Erwägung wert.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic