Brewing, Daniel, Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 29). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016. 363 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Kein anderer Ort wird so sehr mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen verknüpft wie Auschwitz. Das in Oberschlesien gelegene Konzentrations- und Vernichtungslager wurde als Vernichtungsort von mehr als einer Million jüdischer Menschen aus Europa zum überragenden Symbol des Holocaust. Die Strahlkraft eines solchen Symbols wirft aber auch Schatten, die andere Gewissheiten verdunkeln: Denn zum einen starb die Mehrzahl der ermordeten europäischen Juden nicht in Auschwitz, sondern an unzähligen weiteren Orten, zum anderen wurde Auschwitz auch für viele Nichtjuden zur „Endstation“, unter ihnen Zehntausende von Polen. Typisch für Auschwitz sei, dass dort „in einem mit Stacheldraht umzäunten Raum eine spezifische Tätergruppe ohne zeitliche Begrenzung unterschiedliche Gewaltpraktiken, die im Zeitablauf den Tod zahlloser Menschen forderte[n](, verübte)“ (S. 35). Doch in den 2078 Tagen der deutschen Besatzung Polens traf der mutwillige gewaltsame Tod die polnische Bevölkerung keineswegs vorwiegend oder gar ausschließlich in diesem institutionalisierten Rahmen; viele Polen habe er, unkalkulierbar und heute noch wenig beachtet, in Gestalt der von der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft zu verantwortenden und oft unter Beteiligung lokaler Helfershelfer begangenen Massaker ereilt. Ausschließlich diese besondere Form der Gewalt ist daher Thema der vorliegenden Arbeit. Klaus-Michael Mallmann, bis 2014 wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, hat die Zeitgeschichtsforschung insbesondere durch seine dreibändige Edition der „Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion“ (zusammen mit Andrej Angrick, Martin Cüppers und Jürgen Matthäus) bereichert; mit Daniel Brewing untersucht nun einer seiner Dissertanten die Exzessverbrechen an der polnischen Zivilbevölkerung (dieser Begriff wird definitorisch eingeschränkt auf „ethnische/christliche Polen“). Zum Zweck der Veröffentlichung wurde die 2014 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart approbierte Schrift überarbeitet und gekürzt.

 

Der Verfasser spricht von einem „flexible(n), sich im Zeitablauf verändernde(n) System von Handlungsbedingungen“, unter dem die – in der Einleitung als „örtlich gebundene, eigendynamische Gewaltexzesse, die durch extrem asymmetrische Machtrelationen geprägt sind, in ihren Bedingungen der Möglichkeit und in ihrer Legitimierungsfähigkeit jedoch in vielfacher Weise spezifisch kontextabhängig sind“ (S. 16) definierten – Massaker hervorgebracht wurden. Dieser spezifische Kontext generiere sich im Wesentlichen aus der Verzahnung vierer Faktoren: „die Kontinuitäten und Brüche der Vorgeschichte, die Zeit- und Handlungsperspektiven der allgemeinen Besatzungspolitik, die Strukturen eines antipolnischen Feindbildes und die Austeilung von Gewaltlizenzen im Rahmen einer nationalsozialistischen Ordnung der Gewalt“ (S. 41). Die Studie ziele daher „auf die breite Kontextualisierung der Massaker, eine Re-Konstruktion der Feindbilder und öffentlichen Diskurse und eine Auslotung des Verhältnisses von Intention und Situation bei der Planung und Durchführung der Massaker“ (S. 19f.).

 

Der erste von insgesamt drei inhaltlichen Teilen behandelt das „Setting der Massaker“. Hierbei geht es zunächst um die Darlegung der Wandlungen des deutsch-polnischen Verhältnisses von 1848 bis 1939, an welche die Ziele und die Praxis der deutschen Besatzungsherrschaft anknüpften. „Eine Schlüsselstellung nahmen in diesem Zusammenhang die Volksdeutschen ein: Sie waren nicht nur […] zentraler Legitimationsspender für die Ausdehnung staatlichen Gewalthandelns, sondern zugleich Adressaten für eine Vielzahl von Angeboten und Aufforderungen zur Beteiligung an und Unterstützung von Gewalthandlungen“, die in Summe „einer Ausdehnung und Privatisierung staatlicher Gewalt gegen ‚Fremdvölkische‘“ gleichkamen (S. 83f.) und sich im berüchtigten „Volksdeutschen Selbstschutz“ organisierten und institutionalisierten. „Völkische Neuordnung“, wirtschaftliche Ausbeutung und Zwangsarbeit waren die durch eine Reihe von Zielkonflikten untereinander gekennzeichneten Parameter, unter denen die nationalsozialistischen Besatzer den polnischen Raum nach dem deutschen Einmarsch zu organisieren trachteten.

 

Der zweite Teil des Bandes ist mit seinem Umfang von 160 Druckseiten der weitaus ausführlichste und zeichnet die Entwicklung der deutschen Massaker in Polen und ihre jeweils relevanten Rahmenbedingungen über den gesamten Zeitraum des Zweiten Weltkriegs nach. Im August 1939 „forderte (Hitler) von seinen Generalen […] keinen Krieg im klassischen Sinne, sondern […] einen ‚Volkstumskampf‘, in dem die Grenzen erlaubter Gewaltanwendung deutlich ausgedehnt werden sollten. […] Der normative Rahmen des ‚Volkstumskampfes‘ […] grenzte die Polen tendenziell aus dem Geltungsbereich gewaltbegrenzender Normen aus. […] Dabei korrespondierte diese strenge Differenzierung zwischen ‚Binnen- und Außenmoral‘ […] mit einer grundlegenden Erfahrung deutscher Generale und Soldaten aus den nationalsozialistischen Vorkriegsjahren: der Etablierung einer ‚rassischen Exklusionsgemeinschaft‘ durch radikale Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Eine binäre Codierung der Welt war aus deutscher Perspektive nichts Neues, sondern gelebte Praxis“ (S. 142f.). In einer „explosive(n) Mischung aus Anspannung und Nervosität einer im Kampf unerfahrenen Truppe“, hervorgerufen durch eine regelrechte Freischärler-Hysterie, wurden von oben umfassende Entscheidungsbefugnisse an die Kommandeure vor Ort delegiert; in der Folge führten bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn „deutsche Soldaten (in Hunderten polnischer Dörfer und Städten) Massenerschießungen polnischer Zivilisten durch“ (S. 152), sodass die Generale mit Anordnungen zur Wiederherstellung der Disziplin innerhalb der Truppe gegensteuern mussten. Parallel dazu oblag es den Formationen des SS- und Polizeiapparates, die bewusst unscharf und deutungsoffen definierte und als Motor des Widerstandes etikettierte polnische Intelligenz zu vernichten, wobei allein „plausibel angenommen […] über 40.000 Menschen […] erschossen wurden“ (S. 174).

 

Mithin entpuppte sich das Massaker als „Gelegenheitsstruktur, die den Tätern kaum Grenzen setzte und eine völlige Enthemmung der Gewaltausübung ermöglichte“. Für die eingesetzten deutschen Verbände war sie „eine Initiation in den Massenmord“, „(d)enn hinter die hier erprobten ‚Lösungen‘ gab es kein Zurück mehr“ (S. 174f.). Angesichts dieses rigiden Vorgehens der deutschen Besatzungsmacht ist es nicht verwunderlich, dass sich im besetzten Polen nun realer Widerstand immer massiver formierte, der mit den Rückschlägen der deutschen Kriegsführung trotz immer brutalerer Unterdrückungsmaßnahmen zusehends der Kontrolle der Besatzer entglitt. Der Verfasser zeichnet diese Spirale der Gewalt nach, die im Frühjahr 1940 punktuell mit der Eröffnung des „Bandenkampfes“ einsetzte, der ab Sommer 1942 im waldreichen Südosten des Generalgouvernements zum flächendeckenden Phänomen wurde und – explosionsartig zunehmend – 1943 in die offizielle Erklärung des besetzten Polen zum „Bandenkampfgebiet“ mündete, mit der Himmler drohende Kompetenzeinbußen seines Apparates abzufangen trachtete (mit dem Näherrücken der Ostfront und dem fortschreitenden Kontrollverlust wechselte die Federführung in der Partisanenbekämpfung 1944 tatsächlich zur Wehrmacht). Laut der späteren Vernehmung des „Chefs der Bandenkampfverbände“, Erich von dem Bach-Zelewski, bedeutete die Ausrufung des „Bandenkampfgebiets“ für die polnische Zivilbevölkerung Folgendes: „Jeder Anschlag […] zog unweigerlich Massenerschießungen im Verhältnis 1:50 bzw. 1:100 nach sich. Schon das bloße Auftauchen bewaffneter Verbände in der Nähe einzelner Dörfer führte zu Massakern an den Einwohnern […]. Die polnischen Zivilisten im ländlichen Raum des besetzten Polen wurden damit […] ‚vogelfrei‘“ (S. 241). In den Methoden, die bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 zur Anwendung gelangten, ortet Daniel Brewing den Transfer der Massaker auf den städtischen Raum und die Kulmination der Gewalt. Für den Zeitraum der Besatzung Polens erachtet er so „eine Gesamtzahl von etwa 250.000 Opfern“ – wohlgemerkt ausschließlich massakrierte polnische Zivilisten gemäß der eingangs dargelegten Definition – für realistisch (S. 324f., Fußnote 41).

 

Die gerichtliche Ahndung der in Frage stehenden Straftaten nach 1945 habe sich, wie der kurze dritte Teil der Studie („Bewältigungsversuche nach 1945“) abschließend darlegt, zwiespältig gestaltet. Die Bemühungen um Strafverfolgung vor Ort in Polen standen im Zeichen eines sich etablierenden kommunistischen Herrschaftsapparates und damit auch einer im Angesicht des heraufziehenden Kalten Krieges ab 1947 immer restriktiveren Haltung der Westalliierten gegenüber polnischen Auslieferungsbegehren. In mehreren großen Gerichtsverfahren verurteilte das Oberste Nationaltribunal Polens unter anderem Funktionäre des Besatzungsapparates wie Arthur Greiser, Albert Forster, Josef Bühler, Ludwig Fischer, Josef Meisinger und Max Daume sowie Lagerkommandanten wie Rudolf Höß und Amon Göth als Hauptkriegsverbrecher zum Tode. Weitere Verfahren fanden vor Sondergerichten, ab 1946 vor Bezirksgerichten statt, wobei „die Richter überraschend geringe Strafen (verhängten)“. Insgesamt sei „ein sichtbares Bemühen um eine strafrechtliche Verfolgung zu verzeichnen, die zugleich rechtstaatlichen Grundsätzen folgte“, aber die oben genannten Hemmnisse führten dazu, dass „(i)n der Summe vor polnischen Gerichten so nur ein Bruchteil der Täter tatsächlich für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen (wurde). Die überwiegende Mehrheit der Angeklagten waren nicht-deutscher Abstammung […,] die […] Verfahren […] eher […] Abrechnung mit vermeintlichen Kollaborateuren. Die große Mehrheit der deutschen Täter hatte sich hingegen dem Zugriff polnischer Strafverfolgungsbehörden entzogen“ (S. 302f.).

 

In der Bundesrepublik Deutschland seien der juristischen Aufarbeitung deutscher Massaker an polnischen Zivilisten die weitgehend bekannten Hindernisse entgegengestanden, die neben der schwierigen Ermittlung der Sachverhalte und einer viktimisierenden Grundhaltung (die Deutschen hätten sich bloß gegen gewaltaffine, grausame Polen verteidigt) vor allem in der spezifischen deutschen Rechtslage wurzelten: der ab dem Frühjahr 1960 eintretenden Verjährung für Straftaten wie Totschlag, Raub oder Körperverletzung mit Todesfolge, der Gehilfenjudikatur und der Kategorisierung von Gewalthandlungen als nach internationalem Kriegsrecht zulässige „Repressal- und Sühnemaßnahme“. So sei von den zahlreichen Vorermittlungsverfahren kaum eines tatsächlich vor Gericht gekommen, und selbst dann seien die Ergebnisse mager ausgefallen. Gegen den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Friedrich Paulus (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Generalfeldmarschall und Befehlshaber der 6. Armee bei Stalingrad), bereits 1949 wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt und damit vorbestraft, wurde von 1969 bis 1987 vor mehreren Gerichten – darunter mehrmals bis zum Bundesgerichtshof – ohne greifbares Ergebnis prozessiert. „Als Friedrich Paulus nach der Einstellung seines Verfahrens das Gerichtsgebäude als freier Mann verlassen hatte, schloss sich auch das letzte Kapitel einer Geschichte, die mit einem Raubmord an einer volksdeutschen Familie bei Lublin begann, sich mit einer blutigen ‚Vergeltungsaktion‘ fortsetzte und schließlich in einem langen Strafprozess endete“, der geprägt war von der immer noch „populären Projektion, das Verhalten der NS-Institutionen sei lediglich eine – gelegentlich überzogene – Reaktion auf die polnischen Greuel gegenüber den ‚Volksdeutschen‘“ (S. 311f.).

 

Daniel Brewings Studie fügt der Gewaltgeschichte der nationalsozialistischen Herrschaft eine weitere Facette bei. Seine Ausführungen stellen mit der erheblichen Masse polnischer Zivilisten, die den Massakern der deutschen Besatzungsherren zum Opfer gefallen sind, eine schon quantitativ herausragende Gruppe ins Licht, deren Leid im Vergleich mit dem anderer Verfolgter aus verschiedenen Gründen bislang recht zurückhaltend rezipiert worden ist. Der Mechanismus, der diese Übergriffe kennzeichnet, ist indes nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt, sondern universal: Ein über längere Zeit gewachsenes Feindbild, das unter den Rahmenbedingungen asymmetrischer Machtverhältnisse das weitgehend straffreie Ausagieren exzessiver Gewalt in situativen Kontexten gestattet, das umso extremer und wahrscheinlicher wird, je bewusster die Herrschenden die Fragilität ihrer Herrschaft wahrnehmen, die ihnen zugleich als Vorwand für die moralische Rechtfertigung des eigenen Verhaltens dient.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic