Bauer, Julian, Zellen, Wellen, Systeme. Eine Genealogie systemischen Denkens, 1880-1980 (= Historische Wissensforschung 5). Mohr Siebeck, Tübingen 2016. XII, 360 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Die den Menschen umgebende Welt erscheint ihm bunt und vielfältig, bildet aber dessenungeachtet insgesamt eine Einheit. Ob sie darüberhinaus einem System entspricht, hat der Mensch nicht von seinen ersten Anfängen an überprüft, weil ihn sein Denken dazu in dem Zeitpunkt seiner Entstehung noch nicht befähigte. Sprachlich wird diese Vorstellung anscheinend früh von den Griechen erfasst, deren Denker aus dem Zusammenstellen von Gegebenheiten zu einem Gefüge (System) von Gegebenheiten gelangten.
Mit einem modernen Teilaspekt dieses Vorgangs beschäftigt sich das vorliegende Buch, das auf der von Bernhard Kleeberg betreuten, 2012 in dem Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz angenommenen Dissertation des Verfassers beruht. Es gliedert sich nach einer Einleitung über den häufigen Flug der Eule Minervas (Dunkelkammern der Theoriegeschichte – zum Aufbau und den Absichten des Buches - , Vergangenheiten und Gegenwarten systemischer Weltbilder bei Gabriel Tarde, Rudolf Burckhardt, Karl Camillo Schneider und Alfred North Whitehead, Ethnohistorien, epistemische Ideale, Bildprogramme und Begriffsnetze als Umrisse der intellektuellen Kultur systemischen Denkens) in drei Abschnitte. Sie betreffen die vielen Ursprünge systemischer Vorstellungen in den Lebenswissenschaften (Biologien), Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften zwischen 1830 und 1930 (Johannes Reinke, Jakob von Uexküll, Ludwig von Bertalanffy), die eigentümlichen Dynamiken systemischer Geschichtstheorien zwischen 1910 und 1960 (Oswald Spengler, Karl Camillo Schneider, Paul Ligeti) und die Traditionsbestände und Transformationsprozesse systemischen Denkens zwischen 1930 und 1980 bis zu den Konturen einer Provinzialisierungsgeschichte systemischen Denkens.
Im Ergebnis gelangt der nach seinem Vorwort wohl mehr als 100 Sympathisanten verpflichtete Verfasser zu der Erkenntnis, dass auch die Begriffsnetze, Bildprogramme, epistemische Ideale und Ethnohistoriographien nutzende Systemtheorie eine Geschichte hat, die aber nicht erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt, sondern bereits im späten 19. Jahrhundert. In diesem Rahmen sieht er Otto Neuraths Aufsatz zu Problemen der Kriegswirtschaftslehre von 1913 als Sinnbild der intellektuellen Kultur systemischen Denkens, das zugleich die Dezentrierung und Provinzialisierung des eigenen Denkstils befördert. Am Ende des immer wieder längere Darlegungen nachträglich (auch) kurz fassenden Werkes zeigt sich für den Verfasser, dass die Geschichte „großer“ Theorie nicht bloß als eine Geschichte „großer“ Fächer, Köpfe oder politischer Konflikte und Bruchlinien erzählt werden darf, sondern immer auch „kleine“, unscheinbare, umstrittene, exzentrische Köpfe und kollektive, soziale Traditionen gelehrten Sprechens und Handelns jenseits von Disziplinen, Kriegen, Nationalstaaten und Neuanfängen zwischen 1880 und 1980 in den Blick nehmen sollte.
Innsbruck Gerhard Köbler