Archivrecht für die Praxis, hg. v. Becker, Irmgard Christa/Rehm, Clemens. MUR, München 2017. 246 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die komplexen Rechtsfragen des Archivwesens werden in diesem Handbuch auf neuartige und umfassende Art und Weise bearbeitet. Die Herausgeber, als Leiterin der Archivfachschule in Marburg bzw. Abteilungsleiter in dem Landesarchiv Baden-Württemberg, historisch und fachlich seit vielen Jahren bestens ausgewiesen, haben ein vorbildliches Kompendium vorgelegt, das auf dem modernsten aktuellen Stand steht.

 

Mit Geheimnis und Gedächtnis umschreibt Clemens Rehm in seiner geschichtlichen Darstellung wesentliche Elemente der Grundfunktionen des Archivs als gesicherter Hort von Informationen. Der „Spannungsbogen zwischen Sicherung von Herrschaftswissen und gesellschaftlichem Erinnerungsspeicher“ (S. 4) wird deutlich. Das moderne Archivrecht beginnt mit der Entstehung des französischen Nationalarchivs seit 1794. Rehms Perspektive richtet sich auch auf Archivgeschichte als Territorial- und Lokalgeschichte, auf die Erweiterung des Archivbegriffs und den Wandel des Berufsbildes des Archivars – in ihrer wachsenden Distanz zum Arkanbereich der Macht und zur Ermöglichung erweiterten Zugangs, vor allem mit den Archivgesetzen seit 1987.

 

Nicht zuletzt mit den noch in Entwicklung begriffenen Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes und der Länder werden die Archive mehr und mehr zu Kontrollvoraussetzungen von Entscheidungsprozessen, auch von aktuellen politischen Entwicklungen, wenn es um den Zugang zu Vorgängen und Archiven der Ministerien und der Verwaltungen in Bund und Ländern insgesamt geht. Die historische und politisch-gesellschaftliche Retrospektive gehört zur Basis demokratischer Kultur. Wenn auch mit dem neu formulierten „Recht auf Vergessen“ eine neue Schranke in nuce entstanden sein mag, so wirkt sie doch nicht hinderlich für das Archivwesen, sondern allenfalls für eine dem Daten- und Persönlichkeitsschutz dienende Einschränkung, die dem Archivwesen keine nachhaltigen Grenzen setzt, sondern nur die angemessene Nutzungsbefugnis reguliert. Die Geschichte des Archivwesens ist ihrerseits eine Disziplin, die Licht wirft auf die unterschiedlichen Legitimationen der Speicherung, Erhaltung und Nutzung von Archivgütern. Wer Archive selbst nutzt, wird oftmals Einblick gewinnen in die Probleme, die sich aus der jeweiligen Entscheidungsbefugnisse über Erhaltung, Ablieferung und Vollständigkeit gegenüber den Archivinstanzen ergeben. Von Rechts wegen sollten nicht Betroffene oder Interessierte über Art und Umfang der abzuliefernden, zu erhaltenden oder zu skartierenden Güter bekommen. Der Wandel der geschichtlichen Methoden, Interessen und Forschungsgebiete zeigt, dass ehedem nicht für erhaltungswürdig gehaltene Daten, Akten und Informationen plötzlich an Wert und Aussagekraft gewinnen können. Das Recht auf Erhaltung oder auf Kassation ist also von mancherlei Problembereichen überschattet. Neue Forschungsmethoden, andere Schwerpunkte oder auch Moden produzieren auch einen anderen wechselnden Gebrauch der Kulturgüter. Die Erinnerungskultur sollte einerseits nicht nur politischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen der jeweiligen Machthaber, sondern langfristigeren, nicht ephemeren Interessen ausgeliefert sein.

 

Eine Besonderheit bilden bekanntlich die zum Teil staatlich geförderten Privatarchive, die öffentlich zugänglich sind (s. S.16 die instruktive Darstellung von Becker). Wie wichtig hier normative Regularien sind, zeigen die Nutzungsbestimmungen von Vereinsarchiven, Parteistiftungen, Adels-, Unternehmens- und kirchlichen Archiven. Dass hier Sekretierungs- und Zugangsregelungen zuweilen einen nach wie vor wirksamen Geheimbereich sichern, ist vor allem einschlägigen Forschern – nicht zum Vorteil einer transparenten Basis für die Wissenschaft – hinlänglich und zuweilen leidvoll bekannt.

 

Erschließung, Nutzung, Zugang von den Rahmenbedingungen bis zur Bestandserhaltung, und den Zugangsbeschränkungen zum Kulturgüterschutz, Urheberrecht, Datenschutz und Archivgut im Internet mit Lizenzfragen stehen im Handbuch im Mittelpunkt. Die Arbeitsfelder werden in normativer und praktischer Perspektive beschrieben – bis hin zu der EU-Datenschutzgrund-VO von 2016, welche ab 2018 einen neuen Rahmen setzen wird. Auch das Kulturschutzgesetz 2016 wird berücksichtigt. Die Novellen zum Bundesarchivgesetz und zum UrhG bedeuten weitere wesentliche Neuordnungen und Möglichkeiten.

 

Zahlreiche Fachleute haben an diesem exemplarischen Werk mitgewirkt. Staatsaufbau und Archivwesen sowie Bewertungsfragen werden von Irmgard Christa Becker sachkundig dargestellt. Die europäischen Regelungen, Sicherungsfragen nach Kulturgut- und Denkmalschutz, Zugangsrechte und das wichtiger gewordene Internetrecht behandelt Clemens Rehm. Einen ebenso ausgezeichneten Überblick liefert Christine Axter über die wichtigen Schutzfristen, die Verkürzung von Schutzfristen, besonders wichtig für historische Arbeiten, hat Jenny Kotte vorgestellt. Mark Steinert und Jost Hausmann haben die urheber- und persönlichkeitsrechtlichen Fragen beantwortet. Die Darstellung der Personen der Zeitgeschichte (S. 216f.) ist etwas knapp geraten. Hier wird die Praxis auf die umfänglicheren Spezialwerke zurückgreifen müssen, zumal die Judikatur des EGMR seit 2012 weitere Differenzierungen und Grundlagen entwickelt hat.

 

Wir müssen uns an dieser Stelle auf eine zusammenfassende Würdigung dieses fundamentalen Werkes beschränken, das keine juristisch wie praktisch wesentlichen Fragen auslässt und erschöpfende Auskünfte sowohl für Archivare wie Nutzer liefert. Dazu zählen, um einen weiterhin wichtigen fundierten Abschnitt aufzugreifen, die besonderen Fälle (Michael Scholz) wie der Zugang zu ehemaligen DDR-Akten, zu Personenstandsunterlagen, zu Heimakten und zu Verschlusssachen. Für solches sensibles Archivgut gelten vielfache Sonderregelungen. Sie sind auch föderal unterschiedlich ausgestaltet. Wenn, wie ein neuerer Fall zeigt, manche angeblichen Geheimhaltungsinteressen die Fristen ungebührlich lange, etwa auf weit mehr als 100 Jahre ausdehnen, wird freilich die politisch motivierte Geheimhaltung so unmäßig und unverhältnismäßig entwickelt, wie das weder modernen Ansichten von Transparenz, historischen Interessen noch dem Personenschutz entspricht und auch im internationalen Vergleich ganz unangebracht ist. Auch wenn das Spannungsfeld zwischen Geheimhaltung und Transparenz vor allem bei der historischen Aufarbeitung von Nachrichtendiensten seit jeher ein besonders empfindliches Forschungsgebiet sein mag, so hat sich doch nicht zuletzt durch zeitgeschichtliche und historische Arbeiten zur NS-Geschichte, zur Historie der Nachkriegszeit, zu Protagonisten der unterschiedlichen Regime und der der früheren Deutschen Demokratischen Republik gezeigt, dass ein angemessenes und historischen wie demokratischen Interessen gemäßes Archivrecht zur modernen Rechtsfortbildung unabdingbar gehört. Die neueren Entwicklungen investigativer Forschung, der mal legalen, mal illegalen Preisgabe und Nutzung von geheimen Informationen (Stichworte: Wallraff, Cicero, Snowden, Wikileaks, Panama Papers, Whistleblowing etc.) werfen auch für die Archivierung aktueller Problemfelder neue Fragen auf. Sie sind Teil einer nationalen wie internationalen Rechtsentwicklung, deren Basis und Ausmaße noch nicht abschließend abzusehen ist. Hier überschneiden sich die Gebiete des Archivrechts mit dem Informationsrecht, Datenschutz, Staatssicherheitsrecht, Urheber- und Persönlichkeitsrecht und der Rechtsinformatik.

 

Der enorme Nutzen dieses Handbuchs, das primär geltendes deutsches Recht abbildet, aber auch kritische und rechtspolitisch wichtige Aspekte nicht verschweigt, liegt auf der Hand. Den Herausgebern, den Autorinnen und Autoren sowie dem Verlag ist für dieses übersichtliche, durch Sach- und Stichworte wie Literaturhinweise bestens erschlossene Werk besonderer Dank geschuldet.

 

Düsseldorf                                                    Albrecht Götz von Olenhusen