Wilke, Malte, Staatsanwälte als Anwälte des Staates? Die Strafverfolgungspraxis von Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik (= Beiträge zu Grundfragen des Rechts 16). V&R, Göttingen 2016. 369 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit seinem Werk – einer hannoverschen Dissertation – verfolgt Wilke das Ziel, eine „differenzierte Antwort anhand der Mentalität der deutschen Staatsanwälte“ zu finden, „wie sie sich in der Anwendung der Strafprozessordnung und der Auslegung der Strafgesetze in politischen Strafverfahren im deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik, des 3. Reichs und der Bundesrepublik Deutschland manifestierte“ (S. 13f.). Ausgangspunkt der Untersuchungen waren „politische Strafverfahren, da sich bei ihnen die Gefahr der exekutiven Einflussnahme auf Staatsanwälte als am größten erwies“ (S. 14). In einem knappen Abschnitt behandelt Wilke zunächst die Entstehung der deutschen Staatsanwaltschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts (S. 17-24) und die Entstehung des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft (S. 24-28). Es folgt ein Abschnitt über die Reichsanwaltschaft im Kaiserreich (1879-1918; S. 29-62). Wilke untersucht die Rechtsstellung und den sozialen Status des Oberreichsanwalts sowie der Reichsanwälte und die Biografien der fünf Oberreichsanwälte der Kaiserzeit, die sämtlich aus dem preußischen Justizdienst kamen. Die Zuständigkeit des Reichsgerichts in Staatsschutzsachen (§§ 91ff. StGB) ergab sich aus § 136 GVG. Näher dargestellt werden das erste Staatsschutzverfahren vor dem Reichsgericht (gegen die „Breuder-Gruppe“, die mit dem führenden deutschen Anarchisten Johann Most in Verbindung stand), der Strafprozess gegen Mitglieder der pro-französischen „Patrioten-Liga“ und der Hochverratsprozess gegen Karl Liebknecht (1907). Im Resümee stellt Wilke fest, dass die Reichsanwaltschaft in dieser Zeit als „Anwältin des preußischen Obrigkeitsstaates“ agiert und „den staatlichen Machtanspruch in politischen Strafsachen“ verkörpert habe (S. 62).

 

In den folgenden Abschnitten über die Weimarer Zeit, die NS-Zeit und die Bundesrepublik bespricht Wilke jeweils die Zuständigkeiten im Staatsschutzrecht, die Änderungen der Staatsschutznormen, den Aufbau der Reichs- bzw. Bundesanwaltschaft und die innere Haltung der Staatsanwälte zur jeweiligen Staatsform sowie Staatsschutzverfahren. Für die Weimarer Zeit (S. 63ff.) geht Wilke näher ein auf die Biografie der Oberreichsanwälte Ludwig Ebermayer und Karl August Werner („ein rechtsextremistischer Ministerialrat“). Herausgestellt werden der Weltbühne-Prozess, das Strafverfahren gegen Teilnehmer des „Kapp-Putsches“, der Ulmer Reichswehrprozess, das vom Reichsgericht eingestellte Verfahren gegen Werner Best aufgrund der sog. „Boxheimer Dokumente“, die Verfahren gegen Kriegsverbrecher (Leipziger Prozesse) und die Anklagepraxis gegen kommunistische Presseorgane und Buchhändler sowie der „literarische Hochverrat“. Zusammenfassend stellt Wilke fest, „dass die Reichsanwaltschaft in der Weimarer Republik die Möglichkeit gehabt hätte, den republikanischen Staat effektiver zu schützen“; allerdings habe „ihre Mentalität die Angehörigen der Reichsanwaltschaft an einer dem Gesetz entsprechenden Amtsführung“ gehindert (S. 140). – Für die NS-Zeit (S. 141 ff.) bespricht Wilke den Reichsbrandprozess, die Einrichtung des Volksgerichtshofs, den außerordentlichen Einspruch, die Nichtigkeitsbeschwerde, die beide von der Reichsanwaltschaft einzulegen waren, die Biografien des Oberreichsanwalts Emil Brettle, und der Reichsanwälte am Volksgerichtshof sowie Strafverfahren am Volksgerichtshof (unter Einbeziehung archivalisch überlieferter Prozessakten). Ursächlich für die „extreme Strafverfolgungspraxis der Staatsanwälte der Reichsanwaltschaft beim Reichsgericht und der Reichsanwaltschaft beim VGH“ – so Wilke, S. 208 – „dürfte einerseits ihre militärisch-nationalistische Mentalität und andererseits ihre völlige Anpassung an das 3. Reich gewesen sein“ (S. 208).

 

Im Abschnitt über die Bundesanwaltschaft zwischen 1950 und 1969 geht es um die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft in Staatsschutzsachen, das westdeutsche Staatsschutzrecht bis 1968, die Oberbundes-/Generalbundesanwälte Carl Wiechmann, Max Güde, Wolfgang Fränkel und Ludwig Martin, um personelle Kontinuitäten in der Bundesanwaltschaft und in den Strafsenaten des Bundesgerichtshofs (insbesondere frühere Angehörige der Reichsanwaltschaft als Richter am Bundesgerichtshof) sowie die Strafverfolgungspraxis der Bundesanwaltschaft in der Vulkanaffäre, im Strafverfahren gegen Otto John, gegen den „Spiegel“ und gegen den Chefideologen des DGB Viktor Agartz. Hinsichtlich der Strafverfahren gemäß § 100 e StGB hat Wilke die Strafverfolgung und Sitzungsvertretung in Strafsachen anhand der Originalakten durch die Generalstaatsanwaltschaft Celle analysiert, die sich ganz an den Erfordernissen der Staatsraison (Antikommunismus als Grundkonsens der westdeutschen Strafrechtspflege) ausgerichtet habe (S. 273-284). Insgesamt konnte sich die Bundesanwaltschaft nicht von der antiliberalen Tradition in Staatsschutzsachen lösen (subjektivierte Auslegung der Staatsschutznormen und gleichzeitige Missachtung von Grundrechten der Angeklagten und der StPO). Eine Ausnahme machte nur der Generalbundesanwalt Güde, den Wilke als einen „tendenziell liberalen Ankläger“ bezeichnet.

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einem Schlusswort und einem „Aufruf für die Errichtung der ‚demokratischeren Staatsanwaltschaft‘‘ (S. 297ff.). Wilke plädiert für die Abschaffung des externen Weisungsrechts hinsichtlich einzelner Strafverfahren, für eine eventuelle Überprüfung spezieller Anweisungen durch ein Oberlandesgericht eines jeden Bundeslandes, für die Errichtung eines Justizwahlausschusses, der über die Beförderungen der Staatsanwälte entscheidet, für die Möglichkeit der Abberufung des Generalstaatsanwalts bei Amtsmissbrauch durch die Landesparlamente und für eine Stärkung der Staatsanwaltschaft gegenüber der Kriminalpolizei. Alle diese Forderungen waren Gegenstand von Beratungen eines Unterausschusses der Justizministerialkonferenz (Bericht von 1971) und von Beratungen über den Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zu einem Gesetz zur Änderung des Rechts der Staatsanwaltschaften, der am Widerstand der Länder und der Verbände scheiterte (hierzu die Quellen bei W. Schubert, Staatsanwaltschaftsrecht [1934-1982], [2013]).

 

Mit dem Werk Wilkes liegt eine Überblicksdarstellung der Stellung und der Strafverfolgungspraxis der Reichs- und Bundesanwaltschaft zwischen 1879 und 1969 vor. Wilke hat, wie das Literaturverzeichnis mit über 50 eng bedruckten Seiten ergibt, die umfangreiche Literatur zur Thematik seiner Untersuchungen herangezogen. Gerne hätte man noch erfahren, ob und inwieweit für die Staatsschutzsachen der Kaiserzeit, der Weimarer Zeit und der Bundesrepublik (von den herangezogenen Celler Akten abgesehen) Aktenüberlieferungen zugänglich sind. Vielleicht hätte auch die mentalitätshistorische Analyse noch detaillierter und differenzierter sein können. Insgesamt liegt mit dem Werk Wilkes eine Darstellung der Strafverfolgungspraxis der Staatsanwaltschaft am Reichsgericht und am Volksgerichtshof sowie am Bundesgerichtshof vor für einen Zeitraum von 90 Jahren, auf der mehr ins Einzelne gehende Darstellungen aufbauen können.

 

Kiel

Werner Schubert