Vocelka, Michaela/Vocelka, Karl, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn 1830-1916. Eine Biographie. Beck, München 2015. 458 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Zwei große Farbkarten rahmen thematisch den vorliegenden Band: Die erste, eingangs placierte zeigt Österreich-Ungarn in den Grenzen von 1848 – 1866, ein geschlossenes Gebiet von beeindruckender Größe mit einer Ost-West-Ausdehnung von der Lombardei bis Siebenbürgen und in die Bukowina und einer Nord-Süd-Achse, die von Böhmen und Galizien bis in den Süden Dalmatiens reicht. Was am Ende der 68jährigen Regierungszeit Kaiser Franz Josephs I. und der seines Nachfolgers Karl verblieb, zeigt die Karte des territorialen Status nach dem Ersten Weltkrieg, die den Band beschließt: zwei Kleinstaaten, Österreich und Ungarn, alle übrigen Gebiete zugeschlagen den (weitgehend neu erstandenen, zum Teil bereits wieder verschwundenen) Staatsgebilden Italien, Jugoslawien, Rumänien, Polen und der Tschechoslowakei. Ein Fazit, wie es ernüchternder kaum ausfallen könnte, steckt doch in der Art und Weise dieser visuellen Aufbereitung mehr oder weniger die Botschaft, dass es das Schicksal Franz Josephs gewesen ist, zum Totengräber des ihm anvertrauten, mächtigen Kaiserreiches zu werden.
Als er 1830 geboren wurde, regierte noch der „gute“ Kaiser Franz II./I. (als Franz II. war er der letzte Kaiser des alten, 1806 erloschenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als Franz I. erster Kaiser des 1804 begründeten Kaisertums Österreich), dem 1835 - dem Legitimitätsgedanken und den Machtinteressen Metternichs geschuldet - der kranke, weitgehend regierungsunfähige Ferdinand I. nachfolgte. Erst in der revolutionären Situation von 1848 konnte nach der Abdankung Ferdinands und dem Verzicht des in der Thronfolge vorangehenden Vaters Franz Josephs, Erzherzog Franz Karls, der von der absolutistischen Ära scheinbar unbelastete, 18jährige Franz Joseph den Thron der Habsburgermonarchie besteigen und in seiner außergewöhnlich langen Regierungszeit mehreren Generationen von Untertanen zum Inbegriff pflichtbewusster Beständigkeit werden.
Die beiden Verfasser (Michaela Vocelka ist Leiterin des Simon Wiesenthal Archivs, Karl Vocelka emeritierter Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien) bekennen sich in ihrer Darstellung der Biographie Franz Josephs zu einem quantitativen Ungleichgewicht: Es müssten „im Sinne einer educational biography die ersten 18 Jahre ausführlich behandel[t] werden sowie die ersten 19 Regierungsjahre, weil sie weitaus mehr Ereignisse und Veränderungen aufweisen als jene fast 50 Jahre, die folgen. Der Ausgleich 1867, die Umwandlung des Staates in eine konstitutionell regierte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, war einer der entscheidenden Einschnitte in der Biographie Franz Josephs. Im Vergleich zu diesen ersten Jahren seiner Herrschaft blieben die weiteren Jahrzehnte arm an großen Ereignissen […]“ (S. 14). Sieben Kapitel im Gesamtumfang von 210 Textseiten sind somit dem Zeitraum von der Geburt bis zum Jahr 1867 vorbehalten. Die folgenden sechs Kapitel (von denen wiederum nur die Hälfte politische, die andere Hälfte jedoch weitgehend private Entwicklungen aufgreift) müssen mit 140 Seiten auskommen. Eine „bewusste Fokussierung auf besonders charakteristische Höhepunkte im Leben des Kaisers“ lasse andere Aspekte zurücktreten, so auch „die großen politischen Fragen, zu denen ganze Bibliotheken an Werken mit zahllosen Details erschienen sind“ (S. 14).
Wer also vom vorliegenden Band eigenständige Überlegungen zur politischen Rolle Kaiser Franz Josephs erwartet, wird enttäuscht werden. Bestenfalls referieren die Verfasser in aller Kürze anlassbezogen den jeweiligen Forschungsstand, so im Falle der Frage nach der Schuld am Ersten Weltkrieg: Man könne „mit dem Historiker Sean McMeekin verschiedene Grade der Verantwortung feststellen. Zweifellos traf eine Hauptschuld Gavrilo Princip und seine Mitverschworenen, sowie Apis und die serbische Armee, doch dann folgen sicherlich gleich die österreichischen Politiker Berchtold, Conrad von Hötzendorf und alle anderen Minister außer Tisza, die sofort für einen Krieg eintraten. Franz Joseph schien diese Politik lediglich bestätigt zu haben, ohne selbst besonders aktiv gewesen zu sein“ (S. 354f.). Natürlich wird den interessierten Leser hier die Frage umtreiben, ob mit dieser Feststellung die Verantwortung von jemandem, dem die letzte Entscheidung über Krieg und Frieden oblag und von dem Finanzminister Biliński unmissverständlich festhielt, dass er „immer für den Krieg“ gewesen sei (S. 348), adäquat beschrieben ist. Franz Josephs durch Conrad überlieferter, auf die Option des bevorstehenden Krieges bezogener und „im Zustand einer verzweifelten Entschlossenheit“ geäußerter Satz, „Wenn die Monarchie schon zugrunde gehen soll, so soll sie wenigstens anständig zugrunde gehen“ (S. 347), drängt gleichermaßen auf Nachfrage. Die zu besprechende Arbeit bekennt sich hier zum Schweigen.
Ihre Stärken liegen folglich in anderen Bereichen, und zwar dort, wo es darum geht, dem Leser ein möglichst anschauliches und vielfältiges Bild des Kaisers und seiner Epoche zu vermitteln, in dem die Politik eben nur einen Aspekt unter vielen anderen verkörpert. Ausführlich wird auf seine Ausbildung und die Persönlichkeiten, die mit ihr betraut waren, eingegangen. So übernahm „Metternich selbst die Einführung in Politik und Diplomatie und instruierte Franz Joseph im letzten Ausbildungsjahr 1847/48 jeden Sonntagvormittag“ (S. 39), der göttliche Ursprung des Fürstenrechts wurde stark hervorgehoben. Das fordernde Ausbildungsprogramm, zu dem auch Bildungsreisen gehörten, bereitete den angehenden Kaiser zwar auf seinen späteren „Beruf“ vor, doch die „autoritären und militaristischen Lehrer“ hemmten seine individuelle Persönlichkeitsentfaltung, was sich vor allem in einem früh angewöhnten Hang zur Unterdrückung von Emotionen äußern sollte. In politischer Hinsicht „hatten sich in seinem Unterricht eher die konservativen gegenüber den fortschrittlicher denkenden Lehrern durchsetzen können und ihn wohl nur wenig zum kritischen, eigenständigen Denken angeregt“ (S. 48f.). Die bei seiner Inthronisierung in Olmütz im Bürgertum angeregten, erheblichen konstitutionellen Hoffnungen sollte er folgerichtig bald enttäuschen: „Franz Josephs großes Wort von der ‚heilbringenden Umgestaltung und Verjüngung der Gesammt-Monarchie‘, das er bei seiner Thronübernahme gesprochen hatte, sollte nicht in die Praxis umgesetzt und die Monarchie in den nächsten Monaten schrittweise wieder von vielen Errungenschaften der Revolution gesäubert werden“ (S. 74).
Zur Konstitutionalisierung wurde der sehr militäraffine Franz Joseph letztendlich durch militärische Niederlagen – die schmerzlichste wohl jene von 1866 in Königgrätz gegen Preußen, welche die kleindeutsche Lösung festschrieb – gezwungen. Die im Zuge des die k(aiserliche) u(nd) k(önigliche) Doppelmonarchie begründenden, sogenannten Ausgleichs mit Ungarn am 8. Juni 1867 stattfindende Krönung des Kaisers und seiner Gattin Elisabeth mit der Krone des heiligen Stephan zu König und Königin von Ungarn beurteilen die Verfasser als Höhepunkt seines Herrscherlebens und schildern ausführlich die Feierlichkeiten, die auch in der schwierigen persönlichen Beziehung des kaiserlichen Paares insofern „einen Einschnitt bildeten, […] dass die beiden im Jahr darauf noch einmal Nachwuchs bekamen“, Tochter Marie Valerie, die „zum erklärten Liebling“ ihrer magyarophilen Mutter und vorwiegend ungarisch erzogen wurde (S. 207). Die hinreichend bekannten, weil populären persönlichen Schicksalsschläge im Leben Kaiser Franz Josephs, vom frühen Tod seiner erstgeborenen Tochter Sophie über die Erschießung seines Bruders Ferdinand Maximilian als Kaiser von Mexiko, die Tragödie des Kronprinzen Rudolf in Mayerling und die Ermordung Sisis 1898 durch einen Anarchisten, „zu denen – gleichsam als letzter Akt – noch die tödlichen Schüsse in Sarajevo auf den Thronfolger Franz Ferdinand hinzukommen sollten, die den Ersten Weltkrieg auslösten, stilisierten ihn zu jenem einsamen, alten Kaiser, der er in den Augen vieler in seinen folgenden beiden Lebensjahrzehnten war und dessen Mythos so lange nachwirkte“ (S. 312).
Aber die vorliegende Biographie zeigt auch andere, über den trockenen Bürokraten hinausgehende, allgemein weniger bekannte Seiten der kaiserlichen Persönlichkeit, die sich nicht nur in der geliebten Jagd Erholungsräume schuf. Der Leser erfährt, dass der erzkatholische Kaiser Franz Joseph „einige außereheliche Beziehungen zu Frauen“ unterhalten hat, von denen „oft nur die langjährige Liaison mit Katharina Schratt von 1885 bis zu seinem Tod 1916 erwähnt und dabei meist entsprechend verharmlost wird“ (S. 276). Auf der anderen Seite war er, „der mit seinen Affären im Sinne der katholischen Kirche natürlich schwer sündigte und Ehebruch beging, dennoch in seinen moralischen Maßstäben gegenüber seiner Familie überaus streng“. Das Strafgesetz verhinderte jede öffentliche Auseinandersetzung mit den Skandalen des Kaiserhauses, intern vermied der Kaiser Aussprachen nach Möglichkeit. „Jedes Gespräch mit einem der ‚Sünder‘ hätte ihn ja in eine schwierige Lage gebracht, da zumindest ab 1885 jeder wusste, dass er mit Katharina Schratt eine Beziehung unterhielt, die, wie schon Zeitgenossen vermuteten, über das gemeinsame Kaffeetrinken und Gugelhupfessen hinausging“ (S. 289). Die Empfänglichkeit Franz Josephs für weibliche Reize, aber auch seinen Humor belegen diverse Briefe an seine Ehefrau; so berichtete er von seiner großen, hier ebenfalls breit dargestellten Orientreise zur Eröffnung des Suezkanals 1869, bei der er auch die Cheopspyramide erklomm, die dort als Führer tätigen Beduinen trügen „meist nur ein Hemd, so daß man beim Steigen viel sieht, was der Grund sein soll, daß die Engländerinnen die Pyramiden so gerne und viel besteigen“ (S. 242).
Es ist somit auch ein kurzweilig zu lesendes und damit wirtschaftlichen Erfolg versprechendes Buch, das Michaela und Karl Vocelka, wie sie selbst zugeben, geradezu überpünktlich zum 100. Jahrestag des Ablebens Franz Joseph I. auf den Markt gebracht haben. Die Mischung aus einer durchgehend vorhandenen wissenschaftlichen Seriosität (auch der Rechtshistoriker stößt immer wieder auf bemerkenswerte Hinweise, wie zur großen Kaisertitulatur, S. 75ff., zu den verschiedenen Verfassungsentwürfen, zum Ausgleichsgesetz, S. 193f., oder zum kaiserlichen ius exclusivae, S. 301f., durch das der Monarch Kandidaten von der Papstwahl ausschließen konnte) und der geschickten Inklusion von Passagen, die auch die Bedürfnisse des Boulevards bedienen, macht die Arbeit zu einer empfehlenswerten Informationsquelle für jeden, der an einem lebendigen Bild des langjährigen Regenten, der politischen und privaten Herausforderungen, mit denen er konfrontiert war, sowie des Zeitgeists jener Jahrzehnte, die seine Regentschaft durchmaß, interessiert ist. Der zentral eingesetzte, auf hochwertiges Papier und in Farbe gedruckte Tafelteil dokumentiert, ergänzend zu den Schwarz-Weiß-Illustrationen des laufenden Textes, den Lebensweg Kaiser Franz Josephs anhand elf ausgewählter Darstellungen der bildenden Kunst und einer Fotografie; ein Stammbaum der Nachkommen Kaiser Franz II./I. (S. 443) sorgt dafür, dass der Überblick über die genealogischen Beziehungen der zahlreich genannten Mitglieder des Herrscherhauses jederzeit gewahrt bleibt.
Kapfenberg Werner Augustinovic