Siemann, Wolfram, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie. Beck, München 2016. 983 S., 73 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Gepflogenheit, Phasen im geschichtlichen Kontinuum mit den Namen herausragender Akteure zu belegen, deren Wirken als stellvertretend für das Spezifische jener Zeit angesehen wird, ist ein untrügliches Indiz für die ungebrochene Bedeutung der gestaltenden Persönlichkeit im historischen Prozess. Wenn vom Napoleonischen Zeitalter, der Ära Bismarck oder eben dem System Metternich die Rede ist, knüpfen sich daran Akte kollektiver Erinnerung, die weit mehr als das umfassen, was im Allgemeinen mit individuellen Lebensläufen assoziiert wird. Das Genre der Biographie boomt, und es kann ihm mit ziemlicher Sicherheit noch ein langes Leben prophezeit werden. Das ist auch gut und notwendig so, denn die eingängigen Etiketten, die im Wege der Bildung das kollektive Gedächtnis formieren, dürfen nicht als unveränderbare, zeitlos gültige Tatsachenfeststellungen missinterpretiert werden. Vielmehr bedarf es immer wieder der Nachprüfung, wie sehr überlieferte scheinbare Gewissheiten modernen Forschungsergebnissen noch standhalten. Das Beispiel der vorliegenden Studie zu Metternich zeigt, welches Potential der biographische Ansatz in dieser Hinsicht abzurufen vermag.

 

Unter den von Wolfram Siemann gezählten, rund 30 Biographien, die zwischen 1836 und 2015 zu Metternich erschienen sind, komme - wie er völlig zu Recht feststellt - Heinrich von Srbiks Werk („Metternich. Der Staatsmann und der Mensch“, 2 Bände, 1925) „an Gelehrsamkeit, Belesenheit und in der Erschließung der Quellen“ eine herausragende Bedeutung zu. Dies habe dazu geführt, „dass die bei ihm entnommenen Informationen schlechthin als verbürgt behandelt werden, selbst wenn sie durch neuere Forschung zweifelsfrei widerlegt worden sind“ (S. 21). Ohne Srbiks Leistung schmälern zu wollen, legt der Verfasser die Finger auf die wunden Punkte, die dessen Metternich-Interpretation in vielen Bereichen nicht nur als nicht mehr zeitgemäß, sondern als schlichtweg falsch entlarven. Beeinflusst von Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler, bildeten - wie eine Fülle von Zitaten aus dem Werk unbestreitbar belegt - ein biologistischer Rassismus, deutscher Nationalismus und Kulturimperialismus, Herrenmenschentum und politischer Führermythos den Deutungshintergrund von Srbiks Arbeit und führten zu verzerrten, anachronistischen Schlussfolgerungen. Dazu gesteht Srbik selbst ein, dass für ihn „an eine systematische Durcharbeitung der schier unermesslichen Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien und der Akten- und Briefmassen des Fürstlich Metternichschen Familienarchivs in Plaß […] nicht zu denken war“ (S. 28), sodass seine stichprobenartige Auswertung der Unterlagen keine zuverlässigen Aussagen über längere zusammenhängende Zeiträume zulässt. Nachweisliche Widersprüche in Srbiks Metternich-Bild mit durchaus auch korrekten Wahrnehmungen rührten daher, dass er „die Fülle der Beobachtungen und Informationen nicht gänzlich dem Diktat der eigenen Normen zu unterwerfen (vermochte) – man möchte sagen: glücklicherweise, weil dadurch mitunter die apodiktischen Verurteilungen wieder relativiert werden“ (S. 30).

 

In der Tat gerät Wolfram Siemanns auf eine exzellente Durchdringung der Quellen gestützte Darstellung immer wieder auch zu einer Auseinandersetzung mit den häufig unrichtigen und unkritisch in die Arbeiten zahlreicher Adepten eingeflossenen Schlussfolgerungen, die Srbik aus seiner oft nur punktuellen Kenntnis des Materials gezogen hat und welche die tatsächlichen Motive Metternichs verkennen. Um diese zu ergründen, setzt der Verfasser auf einen Ansatz, der die frühen, in der Familie vermittelten Werte und die unmittelbare Wahrnehmung des Umbruchs an den Brennpunkten des revolutionären Geschehens von 1789 und der von zahlreichen Kriegen geprägten Folgejahre als das wesentliche Surrogat zum Verständnis der politischen und moralischen Kernüberzeugungen des späteren Staatskanzlers (ab 1821) heranzieht. Diese Überzeugungen ließen erkennen, dass Metternich keinesfalls der nur mittelmäßig intelligente, prinzipienlose, eitle und aalglatte Opportunist gewesen sei, wie er ihm in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse in der Literatur unterstellt worden sei, sondern ganz im Gegenteil ein brillanter „Stratege und Visionär“ (Titel) mit hohem Ethos, der von der Notwendigkeit einer auf das Recht gegründeten, globalen (nicht nur europäischen) (Friedens-)Ordnung zutiefst überzeugt gewesen sei. Die politische Tagesarbeit an diesen strategischen Zielen erforderte taktische Finten (wie etwa die vielfach kritisierte, scheinbare Annäherung an das napoleonische Frankreich nach dem Frieden von Schönbrunn, die 1810 symbolträchtig in der Verehelichung Napoleons mit der österreichischen Kaisertochter Marie-Louise gipfelte und in Wahrheit dazu diente, die staatliche Integrität des Habsburgerreiches zu wahren, seine wirtschaftliche und militärische Konsolidierung zu ermöglichen sowie insgeheim eine weitere antinapoleonische Koalition zu schmieden), die der Historiker stets in diesen Gesamtkontext stellen müsse, um zu einem angemessenen und korrekten Urteil über Metternich zu gelangen. Durch „seine Verwurzelung im Alten Reich verstand er […] die Eigentümlichkeit der österreichischen Monarchie besser als jeder andere“, doch vermochte er ebenso „die Probleme der neuen Zeit zu analysieren, sah tiefer in die gesellschaftlichen Umbrüche und entwickelte eine eigene, neue Position“, er „stand zwischen den Zeitaltern, wie er selbst empfand, als er feststellte, er sei entweder zu früh oder zu spät geboren, am liebsten wäre er im 20. Jahrhundert groß geworden“. Der Epilog nennt ihn daher „den Postmodernen aus der Vormoderne“ (S. 862ff.).

 

Dem klassischen Muster der Biographie folgend, erstreckt sich die Darstellung, chronologisch fortschreitend, von den Ursprüngen des Geschlechtes Metternich im 14. Jahrhundert und der Geburt des Grafen (ab 1813 Fürsten) Clemens Wenzeslaus Lothar von Metternich-Winneburg und Beilstein 1773 in dessen 14. Generation bis zu seinem Ableben 1859. Insgesamt zählt der Leser 16 Abschnitte (die ersten acht erfassen die Jugendzeit, die Jahre der Französischen Revolution, von Napoleons Herrschaft und der Kriege bis zum Abschluss des Wiener Kongresses 1814/15, die weiteren acht das Wiener System, den Vormärz bis zur Revolution von 1848, Metternichs Sturz und Lebensabend bis 1859) nebst Einleitung und Epilog, die vom Verfasser wiederum übersichtlich in 73 fortlaufend nummerierte Unterkapitel eingeteilt worden sind. Vier Themen erachtet Wolfram Siemann für so aussagekräftig, dass er vorübergehend von seinem chronologischen Muster abweicht und sie „von einem erhöhten Standpunkt aus“ (S. 476) betrachten will: Krieg, Frauen (Metternichs Überlegungen „zielen auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau“, er betont darin „die geistige Ebenbürtigkeit der Frau“, ganz im Gegensatz zum „viel gepriesenen fortschrittlichen Code Napoleon“, der ein „Modernisierungsdefizit“ aufweise, indem er in Artikel 213 die Geschäftsfähigkeit der Frau vor Gericht beschränkte; S. 579), Ökonomie und Herrschaft.

 

Greift man exemplarisch das für Metternichs gesamtes politisches Handeln bedeutungsvolle Phänomen des Krieges heraus, so unterschied sich seine Einstellung diametral von der Napoleons. Letzterer habe ihm einst im persönlichen Gespräch in Dresden wörtlich mitgeteilt: „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen“ (S. 412). Metternich hingegen „äußerte sich (über seine Kriegserfahrungen) kaum im diplomatischen Umgang, sondern so gut wie ausschließlich in seinen privaten […] Briefen an seine Ehefrauen, Töchter und Geliebten“. Diesen Zeugnissen zufolge „erlebte (er) den Krieg und dessen Verheerungen so augenfällig, schrieb darüber so drastisch, dass man bei ihm Erschrecken und Empathie wiederfindet, wie sie Francisco de Goya zeitgleich mit seiner Serie von Druckgrafiken über die ‚Schrecken des Krieges‘ auszulösen vermochte“. Krieg war ihm nicht, wie für Clausewitz, „eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, sondern „das Ergebnis ungeheurer Fehler“, „ein Verbrechen, hervorgerufen durch menschlichen Größenwahn, der – so glaubte er – immer wieder und zu jeder Zeit neu die Schutzzäune der Zivilisation und des ‚Rechts‘ einzureißen vermochte“ und dem „Politik dauerhafte Barrieren entgegensetzen musste“. Der Verfasser hält fest, man verstehe „Metternich, sein ganzes politisches Streben seit 1815 nicht, wenn man nicht die Grunderfahrung eines mehr als zwanzigjährigen europäischen Krieges als die eigentlich prägende Macht in seinem Leben erkennt. [...] Jene Grunderfahrung zog alles in ihren Bann: seine Haltung zu revolutionären Handlungen, zu Attentaten auf gekrönte Häupter, Aufrufen zur Gewalt in der Presse, geheimen Organisationen und Verbindungen, welche sich gegen die rechtliche Ordnung verschworen. Es ist leicht, Metternich der Repression zu bezichtigen, aber es ist schwer, seine Erfahrung zu ignorieren, wie eine Zivilisation zusammenbrechen kann“ (S. 477ff.). Als die Radikalisierung der deutschen Nationalbewegung 1819 im Attentat Carl Sands auf den Dichter August von Kotzebue gipfelte, war für ihn wieder der „irregeleitete Geist der Freiheit“, der „alles tötet und darin endet, sich selbst zu töten“, am Werk (S. 675). Immer im größeren historischen Zusammenhang denkend, erfasste er die Macht der Presse mit ihrem Einfluss auf die öffentliche Meinung und suchte sie zu manipulieren, die Einrichtung einer politischen Polizei griff auf das französische Vorbild Fouchés zurück und hatte ursprünglich der Ausforschung napoleonischer Agenten gedient.

 

Gleichermaßen historisierendes Denken fordert der Verfasser auch für das große Unternehmen des Wiener Kongresses ein, dem „bis in neueste Veröffentlichungen“ vorgeworfen werde, seine Baumeister, allen voran Metternich, hätten „das nationale Wollen der Völker missachtet und ihr Werk nur auf dem Weg des Länderschachers vollbracht“, „ein völlig missglücktes Europa, in dem die italienische, die deutsche, die polnische und die Balkanfrage am Ende allesamt durch Kriege gelöst wurden“. Solche Deutungen würden aber völlig „das 1814/1815 Denkmögliche“ verkennen, denn „die Entscheider des Wiener Kongresses gehörten alle einer kosmopolitischen Generation an“. Nach Napoleons geplanter Universalherrschaft sei die vorgegebene Struktur „das System der Imperien“ gewesen, „in das sich die übrige europäische Staatenwelt einzuordnen hatte“. Denn „nur unter der Bedingung einer imperialen Konstruktion war garantiert, dass eine europäische Friedensordnung und ein europäisches Völkerrecht entstehen konnten. Die auf dem Kongress leitenden Politiker hatten ein ‚europäisches Recht mit vornationalem Charakter‘ vor Augen, eine ‚verbindende Idee‘ des ‚public law of Europe‘. Erst später setzten Palmerston, Cavour und Bismarck als neue Doktrin das ‚international law‘ konkurrierender Nationalstaaten durch […,] man erkämpfte es ‚inter nationes‘, in der meist militanten Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten“ (S. 490f.).

 

Es ist dieses Bemühen, historisches Geschehen aus den Möglichkeiten der Zeit heraus zu verstehen und damit der Falle anachronistischer Fehldeutungen zu entgehen, welche die vorliegende Arbeit in hohem Maß kennzeichnet. So erfährt auch das Verständnis der spezifischen rechtlichen Verhältnisse, auf denen das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation gründete und in denen das Geschlecht der Reichsgrafen von Metternich gewachsen und tief verwurzelt war, die gebührende Aufmerksamkeit. Mit Bezug auf die geschilderten Zeremonien anlässlich der Kaiserkrönungen Leopolds II. (1790) und Franz II. (1792) ist die Rede von der „Gesamtheit der Symbole, Gesten, Rituale und Verfahren, in denen sich die Ordnung des Reiches handgreiflich verkörperte“, vom „‘Bann einer kollektiven Fiktion‘ […], welche einer institutionellen Ordnung einen sichtbaren Sinn unterlegt“ (S. 83f.). Während der Parvenü Napoleon seiner eigenen Herrschaft durch Imitation dieser Inszenierungen Legitimität zu verleihen suchte, sah Metternich deren Substanz tatsächlich in der Habsburgermonarchie gewahrt. Dort musste der Staatskanzler, was seine Handlungsspielräume anlangte, in seiner Laufbahn „unter völlig verschiedenen Grundbedingungen“ arbeiten. „Kaiser Franz […] hatte, bildlich gesprochen, eine starke Wand errichtet, die seinem Minister Schirm und Rückhalt bot […]. Auf diese Weise war Metternich nicht auf Verbündete angewiesen und konnte weitgehend autonom operieren, vorausgesetzt, er ging mit seinem Herrscher konform. Die Regentschaft Ferdinands nach Franzens Tod schuf genau die gegenteilige Situation […,] er brauchte Verbündete und er sah sich einer mächtigen Front der kaiserlichen Familie gegenüber, abgesehen von seinem Hauptwidersacher in der Innenpolitik […], Franz Anton Graf von Kolowrat-Liebsteinsky“ (S. 792f.) - höchst bedeutsame Konstellationen, die aber in vielen Veröffentlichungen bislang kaum beachtet worden sind.

 

Mit seiner aktuellen Biographie setzt Wolfram Siemann einen Standard in der Metternich-Forschung. Die Arbeit des emeritierten Professors für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität München rückt schiefe Bilder und Fehleinschätzungen Srbiks zurecht und weist den maßgeblichen Einfluss Metternichs auf Feldern nach, wo er bislang nicht hinreichend wahrgenommen wurde, in vielen Punkten kommt sie zu einer Neubewertung. Das Wohlwollen, das hier der kundige Wissenschaftler dem Objekt seiner Forschung zukommen lässt, ist durchweg spürbar, entspringt aber nicht der Willkür, sondern der wohlabgewogenen Stimme der Quellen. In diesen erscheint der anglophile Fürst, der in seinen Anfängen von seinem umtriebigen Vater Franz Georg als Gehilfe in die Staatsgeschäfte eingeführt worden war und dem die Universität Oxford die Ehrendoktorwürde „in jure civile“ verliehen hat, als die überragende, entgegen dem gängigen Klischee in vielem aufgeklärt denkende politische Begabung seiner Zeit, die sich nicht scheute, selbst Kaiser Napoleon oder dem russischen Zaren Alexander persönlich die Stirn zu bieten, wenn es die Sachlage und höhere Ziele nahelegten. Exemplarisch für das entworfene Gesamtbild mag das Urteil stehen, zu dem der Verfasser angesichts der unübersichtlichen Situation bei der abschließenden militärischen Niederwerfung Napoleons gelangt: „Nur wenige waren kaltblütig und zugleich intellektuell begabt genug, um diese komplexe Lage zu meistern – mit Sicherheit nicht der Zar, Gneisenau, Blücher oder Stein, wohl aber in militärischen Fragen Schwarzenberg und namentlich Radetzky, auf operativem Gebiet Metternich“ (S. 448). Als Zivilist gewährleistete er in unmittelbarer Nähe zum Kampfgeschehen, dass nun die sechste Koalition gegen Napoleon endlich eine erfolgreiche war, indem er durch seinen intensiven persönlichen Einsatz das strikte Festhalten an der rationalen Schwarzenberg-Radetzky-Strategie (der Schlacht mit Napoleon auszuweichen und stattdessen zunächst seine Generäle jeweils unter Zusammenführung der alliierten Kräfte separat zu schlagen) gegen den Ungestüm der preußischen Heerführer und des schwierigen Zaren (nach Metternichs Worten „das größte Kind auf der Erde“; S. 465) durchsetzte.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic