AugustinovicSchusterverbrecheropferheilige20160306 Nr. 16002 ZIER 6 (2016) 08. IT

 

 

Schuster, Peter, Verbrecher, Opfer, Heilige. Eine Geschichte des Tötens 1200-1700. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 416 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Das vorsätzliche Töten von Menschen wird fälschlicher Weise in erster Linie mit kriminellen Übergriffen assoziiert. Tatsächlich ist es aber so, dass der weit überwiegende Teil aller Tötungen obrigkeitlichem Handeln zuzurechnen ist. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang das organisierte Töten im Rahmen von Kriegen sowie der Vollzug von Todesstrafen im Namen des Rechts. Für das Letztgenannte interessiert sich Peter Schuster, der an der Universität Bielefeld als Professor Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit lehrt. Das Faktum, dass die Zahl der Hinrichtungen vor allem im 16. Jahrhundert gegenüber dem Mittelalter einen signifikanten Zuwachs erkennen lässt, ist ihm durch die bisherige rechtshistorische Forschung noch nicht hinreichend erklärt. Diese habe „Strafe und Gerichtsbarkeit vornehmlich als rein weltliches Phänomen untersucht“ und „die Strafe als eine Reaktion auf das Verbrechen“ beschrieben, „als habe es zu bestimmten Zeiten objektive Notwendigkeiten gegeben, die Strafverfolgung zu verschärfen“. Wenn Richard van Dülmen („Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit“, 1988) vermutet, es seien „Jahre großer Bandenbildung und starken Räuberwesens“ gewesen, die von der Justiz ein hartes Vorgehen forderten, nennt der Verfasser dieses Argument „wohlfeil, aber empirisch so gut wie nicht zu belegen“ (S. 47).

 

Peter Schuster stellt sich mit seinem (leider auf die üblichen Erschließungsregister verzichtenden) Buch „dezidiert gegen die gängige Rechtsgeschichte“, indem er die folgende These propagiert: „Nicht die weltlichen Normen haben die Geschichte der Todesstrafe geprägt, sondern die Kirchen in ihren wechselnden Blicken auf das Recht des Staates, Menschen hinzurichten, und ihren wechselnden Blicken auf Verbrechen, Sünde und deren Bestrafung“ (S. 34f.). Zwar sei für den gesamten Zeitraum des Mittelalters in Konkurrenz mit anderen Formen des Tatausgleichs „die Anwendung der Todessstrafe dokumentiert“, doch begegne sie dort „fast ausschließlich aus dem Umfeld königlicher und fürstlicher Herrschaft“ (S. 63). Rechtstexte des Mittelalters betonten mehrfach den Maimonides zugeschriebenen Grundsatz, es „wer uns […] lieber, das zehen […] schuldig darvon komen, denn ein unschuldiger getöt werden sollt“. Christliche Herrschertugend im späten Mittelalter sei es gewesen, „weniger […] strenge Gerechtigkeit zu üben, als vielmehr Barmherzigkeit zu praktizieren“ (S. 92). Das Recht habe eine Maximalstrafe vorgegeben, deren Gott vorbehaltene Strenge die weltlichen Richter in aller Regel abmilderten. Von „überragender Bedeutung war die Aneignung der Hochgerichtsbarkeit durch die Reichsstädte. Sie waren die ersten, die versuchten, Organe der bürgerlichen Selbstverwaltung aufzubauen und gleichzeitig Herrschaftsrechte in die Hände der Bürgerschaft zu bringen“, oder, wie ein Nürnberger Jurist 1480 notierte: „merum und mixtum imperium, das ist galgen und strick“ (S. 67). Im städtischen Kontext institutionalisierte sich das Amt des Scharfrichters, adeliges Sonderrecht und Gnadenrecht wurde sukzessive zurückgedrängt. Ein erster (noch nicht überzeugend geklärter), vor allem Diebe treffender Boom der Todesstrafe seit etwa 1400 mag als „Schattenseite der städtischen Moderne“ unter anderem darin gründen, dass hier „die Durchsetzung von Frieden und Recht vor allem bedeutete, die bestehende Eigentumsordnung zu stabilisieren und zu schützen“ (S. 70).

 

Es sei, so Peter Schuster, „wohl kaum als Zufall anzusehen“, dass die Debatten über das im Mittelalter trotz Anmahnungen von Seiten der Kirche die weltlichen Institutionen kaum interessierende Seelenheil der Verurteilten in jener Zeit deutlich an Intensität gewannen. Der „Anfang und ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden religiösen Aufladung der Hinrichtungen“ sei das Edikt des französischen Königs Karl VI. von 1397 gewesen, zum Tode Verurteilten das Recht zur Beichte zu bewilligen. In den Städten des römisch-deutschen Reiches nach und nach übernommen, sei, wie auch die Constitutio Criminalis von 1532 erweise, „am Ende des 15. Jahrhunderts die religiöse Durchdringung des Hinrichtungsrituals vollständig durchgesetzt“ gewesen (S. 80). Das bedeutende, aber noch im spätmittelalterlichen Denken wurzelnde Werk der Constitutio Criminalis, das erstmalig eine Verfahrensordnung für die Blutgerichtsbarkeit durchzusetzen versuchte, sei aber selbst nicht für die Veränderungen im Ablauf des Rituals und in der Wahl des Strafmaßes, wie sie im 16. Jahrhundert Platz greifen sollten, verantwortlich zu machen. Dieses zweifelhafte Verdienst komme der Reformation und insbesondere dem protestantischen Obrigkeitsverständnis zu, wonach die von Gott eingesetzte Obrigkeit die Untertanen mit schärfsten Mitteln von der Sünde abzuhalten habe. So forderte Luther einst unmissverständlich: „Die Obrigkeit muß den Pöbel […] treiben, schlagen würgen, henken, brennen, köpfen und radebrechen, daß man sie fürchte, und das Volk also in einem Zaum gehalten werde. Denn Gott will nicht, daß man das Gesetz dem Volk allein fürhalte, sondern daß man dasselbige treibe, handhabe und mit der Faust ins Werk zwinge. […] Denn für die harten Köpfe, und rohen, frechen Leute, muß man haben Mosen mit seinem Gesetz und Meister Hannsen (das ist der Henker!) mit Ruthen, Feuer, Schwert und Galgen“ (S. 218). Aus dem Recht zu strafen sei damit eine sich auf Gott berufende Pflicht geworden, allgemeine Katastrophen wurden zunehmend als Strafe Gottes für menschliche Sünden interpretiert. Die protestantischen Pfarrer seien so zu „Agenten der Obrigkeit und Mitglieder(n) des Tötungskommandos“ (S. 258) geworden, aber auch ihre katholischen Pendants, die im Spätmittelalter noch gelegentlich ihren Widerstand gegen obrigkeitliche Tötungen mobilisiert hatten, mutierten willfährig immer mehr „zu Seelenfängern, die den Verurteilten zur aufrichtigen Reue seiner Taten bringen und Störungen im Verlauf der Hinrichtung vermeiden sollten“ (S. 285).

 

Plausibel führt der Verfasser aus, wie dieser geistige Wandel auf die Praxis der Strafverfolgung und des Strafvollzugs im 16. und 17. Jahrhundert Einfluss genommen haben soll. Im Einklang mit einem verstärkten Verfolgungszwang wurden Gnadenakte eingeschränkt, Pannen bei Hinrichtungen (sogenannte Galgenwunder oder das Nicht-Ertrinken) bewirkten nicht mehr, wie noch im Mittelalter, die Freilassung, sondern den fortgesetzten Vollzug der Hinrichtung. Mit Rekurs auf das angeblich in der Bibel niedergelegte göttliche Gesetz wurden neue Kapitalverbrechen vor allem aus der sexuellen Sphäre kreiert, die meist den nun vermehrt als Opfer erscheinenden Frauen (sie galten im Mittelalter, ebenso wie Kinder, als nicht vollwertig und wurden deshalb nur selten der Hinrichtung unterzogen) zur Last gelegt wurden. 1587 wurde eine Sechzehnjährige oder Siebzehnjährige mit dem Schwert gerichtet, der vorgehalten worden war, „über vier Jahre hinweg sexuellen Umgang mit ihren Brüdern und ihrem Vater gehabt zu haben“; sie „musste demnach sterben, weil sie seit ihrem 13. Lebensjahr von ihren nächsten Verwandten sexuell missbraucht worden war“ (S. 227). Diese jede Form außerehelicher Sexualität negierende, rigide Sexualmoral war auch häufig die Ursache für Kindestötungen aus Not und Angst, das Delikt wurde nun unnachsichtig mit dem Tod bestraft.

 

Reuigen Sündern (Männern wie auch immer mehr Frauen) gewährte man aber zunehmend die Gnade der Hinrichtung mit dem Schwert (sie galt bekanntlich als ehrenhaft und wohl auch als die am wenigsten peinvolle Form des Vollzugs) oder milderte das Rädern insofern, als dass der Delinquent im Gegensatz zur Tradition schon zu Beginn der Prozedur rasch zu Tode gebracht wurde. Der nun etwas humanere Vollzug erkläre sich daraus, dass die Kirche kein Interesse daran hatte, ehrlich Bekennende durch besonders brutale Hinrichtungen zusätzlich zu quälen, und Henker, die ihre Arbeit nicht korrekt verrichteten, liefen Gefahr, von der Menge gesteinigt zu werden. Nicht zuletzt darin sieht Peter Schuster ein Indiz dafür, dass sich die Zuseher bei Hinrichtungen nun als Teilnehmer eines religiösen Akts begriffen, bei dem nicht – wie Richard van Dülmen angenommen hat - Angst und Schrecken dominierten, sondern Gefühle des Mitleids und der Trauer. Grundsätzliche Kritik an der Todesstrafe blieb wenigen Außenseitern vorbehalten, von denen einer resignierend festhielt: „Das fünffte Gebot/ du solt nicht tödten/ das ist noch von keinem Juristen verstanden worden“ (S. 312). Eine effiziente Abschreckungswirkung konnte mit der hohen Zahl an Hinrichtungen aber nicht erzielt werden, denn die meisten Delinquenten wiesen bereits seit ihrer Jugend deviante Karrieren auf und ließen Chancen zur Umkehr weitgehend ungenutzt. Überdies legen die Quellen eine gewisse Klassenjustiz nahe, da sich die meisten Opfer der Blutjustiz aus den nichtbürgerlichen Unterschichten und aus Fremden rekrutierten.

 

Viele der zahlreichen Beispiele des Verfassers stammen aufgrund der besonders günstigen Quellenlage aus Nürnberg und dem süddeutschen Bereich, doch beschränkt sich der Untersuchungsraum keineswegs ausschließlich auf dieses Gebiet und greift auch über die Reichsgrenzen hinaus. Der Leser kann nicht nur aus authentischen Aufzeichnungen nachvollziehen, wie der langjährige Nürnberger Henker Franz Schmidt mit den Todeskandidaten verfuhr oder wie Pfarrer Johann Hagendorn „die armen Sünder christlich sterben“ lehrte (S. 265ff.), sondern erfährt auch zahlreiche Einzelheiten über die Gefängnisse und ihr Personal, die Haftbedingungen, die verschiedenen Formen der Körperstrafen und der Hinrichtung sowie die pietätlose Verwertung der Leichen, die zum Zweck der Generalprävention oft über Jahre am Hinrichtungsort demonstrativ der Verwesung überlassen, nicht selten ihrer Kleidung beraubt, geschändet oder zu medizinischen Zwecken ausgenutzt wurden. Die überwiegend farbigen Illustrationen des zentralen Tafelteils machen im Wege zeitgenössischer Darstellungen das Hinrichtungsritual auch visuell erfahrbar. Unter seinen in der Bibliographie aufgelisteten, ungedruckten Quellen Nürnberger, St. Gallener, Schaffhausener, Mühlhausener, Lippstädter und Baseler Provenienz hebt der Verfasser vor allem die Rechnungsbücher als verlässlichste Zeugen hervor, die wohl „die Rechtspraxis (zuverlässig) ab[]bilden“, denn „sie wurden kontrolliert, gegengelesen und nachgerechnet“ (S. 38).

 

Peter Schusters im vorliegenden Band dargelegte Thesen bereichern zweifellos die Strafrechtsgeschichte der Frühen Neuzeit und regen zur Kritik an. Seiner weitgehend schlüssigen Argumentation wird man sich allgemein nur schwer verschließen können. Zusätzlichen lokalen und regionalen Forschungen bleibt es vorbehalten, das von ihm entworfene Szenario einer auf religiöse Einflüsse zurückzuführenden, eskalierenden Hinrichtungspraxis auf breiter Basis zu bestätigen und zu verdichten oder aber in seiner Gültigkeit einzuschränken.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic