Salleck, Benedikt, Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen. Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien dargestellt am Wirken des Verteidigers Dr. Friedrich Bergold (= Beiträge zum internationalen und europäischen Strafrecht 25). Duncker & Humblot, Berlin 2016. 383 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Verteidigungsstrategien der Strafverteidiger in den Nürnberger Prozessen waren bisher noch nicht Gegenstand einer rechtshistorischen Monografie. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Salleck dieser Thematik angenommen und sich dabei mit Recht auf einen einzigen Verteidiger beschränkt hat, der wie Bergold mehrere Angeklagte in verschiedenen Verfahren verteidigt hat. Insofern stellt das Werk Sallecks ein notwendiges und wichtiges Pendant zu dem fast gleichzeitig erschienenen Werk von Hubert Seliger, „Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse“, Baden-Baden 2016, dar, das sich primär und überblicksartig auf die Person der Verteidiger beschränkt und nur am Rande sich mit Verteidigungsstrategien einzelner Verteidiger befasst, ohne dass die Prozessprotokolle detailliert und systematisch ausgewertet wurden. Gegenstand der Untersuchungen Sallecks sind die Prozessabläufe und Verteidigungsstrategien Friedrich Bergolds, der eine Vertretung im Hauptprozess und drei Vertretungen in den Nachfolgeprozessen übernommen hat. Die wichtigsten Quellen für die Untersuchungen sind die Prozessunterlagen (Protokolle und sonstigen Materialien) im Bayerischen Staatsarchiv Nürnberg, die Salleck grundsätzlich in der englischen Originalfassung zitiert. Im einleitenden Kapitel „Grundlagen“ (S. 17-54) kennzeichnet Salleck als Ziel seiner Untersuchungen die Auseinandersetzung mit den konkreten Prozessstrategien bzw. Prozessabläufen, und zwar mit Recht separat für jedes der vier Strafverfahren, um dem Leser eine „zusammenhängende Einordnung“ zu ermöglichen. S. 19 stellt Salleck fest, dass die Nürnberger Prozesse Strafprozesse gewesen seien: „in solchen steht die Beweisaufnahme über Schuld oder Unschuld des Angeklagten im Vordergrunde“. Der im jeweiligen Prozess festgestellte Sachverhalt könne „von der historischen Wahrheit, also dem aktuellen historischen Forschungsstand, abweichen“. Die Arbeit verfolgt einen rechtshistorischen Ansatz, „weshalb eine Bewertung aufgrund des im jeweiligen Prozess festgestellten Sachverhalts aus juristischem, nicht zeithistorischem Blickwinkel erfolgen muss“. Auf Abweichungen zum historischen Forschungsstand weist Salleck in der Regel nicht hin. Kern der Arbeit sind „das konkrete Wirken des Verteidigers Dr. Bergold in den Nürnberger Prozessen im Allgemeinen und dessen Prozesshandlungen im Besonderen“ (S. 19). Wichtig ist ferner, dass die Beurteilung „einordnend und nicht wertend“ erfolgt und die Verfahrensstandards anhand der damaligen Rechtsgrundlage und des konkreten Prozessverlaufs dargestellt werden (S. 20). Die Rechtsgrundlagen der Prozesse waren für den IMT (Internationales Militärtribunal die Constitution of the International Military Tribunal von 1944 und für die NMT (Nürnberger Militärtribunale – Nachfolgeprozesse) das Kontrollratsgesetz Nr. 10 sowie die Ordinance Nr. 7 (Organization and Power of Certain Military Tribunals; sämtlich im Anhang in englischer Fassung wiedergegeben). Beschrieben werden die leicht voneinander abweichenden Verfahren vor dem IMT und den NMT sowie die Rechte und die Rechtsstellung der Verteidigung (S. 39). Die jeweiligen Angeklagten waren in der Wahl ihres Verteidigers, der vom Gericht zuzulassen war, grundsätzlich frei (S. 39), wobei den Angeklagten mit der Übergabe der Anklage im Hauptprozess eine „Liste mit ausgewählten Verteidigern“ überreicht wurde (S. 46). Die Verfahrensordnungen beruhten auf dem anglo-amerikanischen Strafverfahren, das grundsätzlich kontradiktorisch ausgestaltet ist (S. 49ff.). Schließlich geht Salleck noch auf die Person und Biografie Friedrich Bergolds ein, die man etwas ausführlicher gewünscht hätte. Bergold, der sich u. a. für Juden eingesetzt und sich gegen „,wilde‘ Arisierungen durch sogenannte ‚Wirtschaftsverbände‘ der NSDAP gewehrt hatte, war nicht Mitglied dieser Partei“.

 

In den Kapiteln 2-5 behandelt Salleck die Verteidigung von Martin Bormann, Erhard Milch, Horst Klein und Ernst Biberstein. Das zunächst besprochene Verfahren war ein Strafprozess gegen einen abwesenden Angeklagten, da der Tod Bormanns (Leiter der Partei-Kanzlei nach dem Flug von Hess nach England; 1943 auch „Sekretär des Führers“ mit den Befugnissen eines Reichsministers) 1945/1946 noch nicht feststand. Bormann wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. – Gerhard Milch (Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium, 1936 Generalinspekteur der Luftwaffe und von 1941-1944 Generalluftfahrzeugmeister), dessen eventuelle jüdische Abstammung bis heute nicht vollständig geklärt werden konnte (S. 94), wurde am 16./17. 4. 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch nach Reduzierung der Haftstrafe auf 15 Jahre 1951 begnadigt. – Horst Klein (1943 Obersturmbannführer, 1940-1944 Leiter des Kulturdenkmalvereins, der 1942 in das WVHA [SS-Wirtschafts- und Hauptverwaltungsamt] eingegliedert wurde) wurde freigesprochen (vornehmlich wegen Wegfall des „zentralen Vorwurfs des Wissens um die Umstände im Konzentrationslager Niederhagen-Wewelsburg). – Biberstein (bis 1934 Pfarrer, zuletzt Propst in Bad Segeberg), über den Salleck nur einen sehr kurzen Lebenslauf bringt, war von September 1942 bis Mai 1943 „offiziell als Vorgesetzter des Einsatzkommandos 6 der Einsatzgruppe C“ in der Ukraine eingesetzt worden, das in dieser Zeit 2000-3000 Personen hingerichtet hat. Am 8./9. 4. 1948 wurde Biberstein zum Tod durch den Strang verurteilt. Nach Salleck kann die Beweisführung der Anklage und auch der Vertretung nicht überzeugen. Die Entscheidungen des Gerichts „in der Beweiswürdigung“ seien „in diesem Fall insgesamt kaum nachvollziehbar“ (S. 314). Letztlich war eine Verurteilung Bibersteins (Tod durch den Strang) „nur durch dessen Selbstbelastung möglich“ (S. 315). Das Todesurteil wurde 1951 in lebenslange Haft umgewandelt, die mit der Entlassung Bibersteins im Mai 1958 endete.

 

Im Schlusskapitel (S. 318-331) wertet Salleck die Einzelergebnisse zusammenhängend aus und führt diese zusammen. Dass die Beweisführung durch das Gericht nicht immer überzeugt, beruht darauf, dass „feste Regeln zu Beweiswürdigung und Beweisstandards“ den Prozessen „ebenso fremd wie konkrete Voraussetzungen der Zurechnung“ waren (S. 329). Dies führte nach Salleck nicht unbedingt zu „unvertretbaren Ergebnissen“, da die Angeklagten „tatsächlich überwiegend schuldig“ gewesen seien (S. 327). Die deutschen Verteidiger haben bei den Richtern nach Salleck einen „bleibenden“ positiven „Eindruck hinterlassen“, ohne deren „Einsatz und Wirken“ die Prozesse – so Salleck – anders ausgesehen hätten. Insbesondere Bergold, der „nicht etwa Freisprüche ‚um jeden Preis‘“ gewollt habe, habe sich seinem „Berufsethos“ verpflichtet „gefühlt“, was sein „Agieren im Hauptkriegsverbrecherprozess“ belege oder sich aus der Tatsache schließen lasse, „dass er bei selbständigen Zeugenbefragungen stets die Wahrheit erforschen wollte“ (S. 330).

 

Das Werk wird abgeschlossen mit zwei Protokollen eines Zeitzeugengesprächs mit der damaligen Sekretärin Bergolds (S. 335ff.) und, wie bereits erwähnt, mit dem Abdruck der rechtlichen Grundlagen der Tribunale sowie mit einem Personenverzeichnis und Sachverzeichnis. Angesichts der umfangreichen Analysen der vier von Salleck untersuchten Strafverfahren ist die zusammenfassende Betrachtung etwas allzu knapp. Vermisst werden Kurzbiografien der an den analysierten Prozessen mitwirkenden Richter und Ankläger. Noch klarer werden sich wohl die Besonderheiten der Verteidigungsstrategien Bergolds erst herausarbeiten lassen, wenn auch Untersuchungen über weitere Rechtsanwälte vorliegen und damit deren Verteidigungsstrategien mit denen Bergolds bzw. untereinander verglichen werden können. Im Rahmen der angesichts der Fülle zu berücksichtigenden Materialien vollauf gerechtfertigten Beschränkung der Untersuchungen auf einen Verteidiger liegt mit dem Werk Sallecks eine grundlegende Untersuchung zu den Nürnberger Prozessen vor, die eine genaue Lektüre erfordert und – so ist zu wünschen – weitere Untersuchungen zur Verteidigungsstrategie insbesondere von Rechtsanwälten anderer Verteidigungsteams (vgl. Seliger, l. c., 117ff., 273ff.) anregt.

 

Kiel

Werner Schubert