Rügge, Nicolas, Die Hexenverfolgung in der Stadt Osnabrück. Überblick – Deutungen – Quellen (= Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 56). Selbstverlag des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück, Osnabrück 2015. 304 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als ein dunkles Kapitel unserer Rechtsgeschichte üben der Hexenwahn und die damit verbundenen Prozesse immer noch eine besondere Faszination auf die Menschen aus. Wie in vielen anderen Bereichen auch, haben sich im Zuge der allgemeinen Aneignung des Themas bestimmte Klischees verfestigt, so jenes vom finsteren Mittelalter und der unerbittlichen kirchlichen Inquisition, später gendermotiviert auch jenes der weisen Frauen, die ob ihres überlegenen Wissens von einer sich in ihrem Absolutheitsanspruch gefährdet fühlenden männlichen Obrigkeit drangsaliert, gemartert und physisch ausgelöscht worden seien. Nicht zuletzt in der Korrektur solcher hartnäckigen Legenden liegt das Verdienst von Publikationen wie der vorliegenden. Sie nimmt die Hexenverfolgung im lokalen Rahmen der Stadt Osnabrück in den Fokus und liefert neben einer chronologischen Darstellung der dortigen Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts sowie ihrer Rezeptionsgeschichte eine hundert Dokumente umfassende Quellenedition.
Der Verfasser, Nicolas Rügge, ist promovierter Historiker und hat als Archivar zehn Jahre am Standort des Niedersächsischen Landesarchivs in Osnabrück gewirkt. Angeregt durch die Beschäftigung mit der lippischen Landesgeschichte, speziell mit der Hexenverfolgung in Lemgo, war es sein Ziel, die verstreuten, für Osnabrück verfügbaren Quellen – meist schwer lesbare Handschriften – zusammenzutragen, besonders aussagekräftiges Material zu transkribieren und in Auszügen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Durch die schwache sprachliche Normierung des Frühneuhochdeutschen bedingt, mussten zudem zum Zweck der besseren Verständlichkeit vorsichtige Eingriffe in das Schriftbild vorgenommen, einigen Schriftstücken darüber hinaus moderne Übersetzungen beigestellt werden. Die durchnummerierten Quellen enthalten in der Überschrift neben ihrer jeweiligen inhaltlichen Benennung den Verfasser, Ort, Datum, die Überlieferungsform und die Archivsignatur (z. B. Q 55: Vermerk des Rates über eine kritische Ratswahlpredigt des Pastors Gerhard Grave an St. Marien, 2. Januar 1639. Beglaubigter Protokollauszug. NLA OS Dep 3 b IV Nr. 3492, Bl. 400.). Zusätzliche Erläuterungen finden sich im Fußnotenapparat, im Anhang verzeichnet ein Glossar allgemeine Begrifflichkeiten, Örtlichkeiten in und um Osnabrück, damals übliche Datierungsformeln und Währungseinheiten. Die insgesamt 260 Todesopfer (256 Frauen, 4 Männer) der Hexenverfolgungen in Osnabrück zwischen 1490 und 1639 sind zahlenmäßig nach Jahren in einer eigenen Tabelle erfasst; noch eindrucksvoller ist eine 142 Namen umfassende, wiederum über Fußnoten kommentierte Aufstellung der namentlich bekannten, zwischen 1561 bis 1639/1648 Hingerichteten mitsamt Angaben zu Verwandtschaft, Stand, Wohnort und Alter, den Daten der Inhaftierung, der Wasserprobe, der Hinrichtung/Strafe und ausgewählten Quellenbelegen.
Die Gründe, weshalb Osnabrück damit in der frühen Neuzeit (also keineswegs im Mittelalter!) zu einer Hochburg der Hexenverfolgungen mutierte, führt der Verfasser überzeugend im Darstellungsteil aus. Eine erste Hinrichtungswelle 1561 deute darauf hin, „dass in Osnabrück die neue Hexenlehre angekommen und wirksam geworden war, wie sie sich im […] Malleus Maleficarum zusammengefasst fand“, wonach „eine ganze Sekte ihr Unwesen (trieb), modern gesagt eine ‚kriminelle Vereinigung‘“ (S. 18), während „Kern des populären Hexenglaubens und verbreitetster Vorwurf der konkret benennbare, im Alltag persönlich erlebte oder vom Hörensagen erfahrene Schadenzauber (blieb)“ (S. 24). Zwischen 1583 und 1592 eskalierte die Situation mit 180 hingerichteten Frauen, wofür eine Kombination unterschiedlicher Faktoren namhaft gemacht werden müsse: „in der Regel eine Krisenerfahrung, die Rezeption des gelehrten Hexenbildes und ein starker Verfolgungswille sowohl von ‚unten‘ also auch von ‚oben‘, oft verstärkt durch persönliche Interessen einzelner besonders aktiver ‚Hexenjäger‘“ (S. 25), wie ihn zu dieser Zeit Bürgermeister Rudolf Hammacher verkörperte. Deutlich übertroffen wurde dessen Eifer noch durch den eines seiner späteren Amtsnachfolger, Dr. Wilhelm Peltzer, dem die letzte große Osnabrücker Hexenverfolgungswelle zwischen 1635 und 1639 federführend zuzurechnen sei. Das Anschwellen und Abebben der Prozesse offenbart die enge Verzahnung überregionaler Entwicklungen und Einflüsse mit den spezifischen Gegebenheiten und Interessen vor Ort.
Zentral ist die Erkenntnis, dass mit dem Ratsgericht, in dem Peltzer in einem „selbst für damalige Verhältnisse problematische(n) Mangel an Gewaltenteilung […] Ankläger und Richter in einer Person“ gewesen sei (S. 70), ein weltliches und kein kirchliches Gericht das Inquisitionsverfahren, dessen Ablauf der Verfasser näher beschreibt (S. 26ff.), durchführte. In dieser von konfessionellen wie machtpolitischen Auseinandersetzungen dominierten Epoche suchte die im protestantisch dominierten Stadtrat vertretene Bürgerschaft die städtische Autonomie zu sichern und auszubauen sowie Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Vorzugsweise wurden Katholiken als Hexen verfolgt, „ein enger Zusammenhang von Glaubenseinheit und Stadtfreiheit propagiert“ (S. 56). Während der Rat die Hexerei als „crimen exceptum“ einem als „processus extraordinarius“ bezeichneten Schnellverfahren unterwarf, hat, wie Peter Oestmann in seinem Standardwerk zum Reichskammergericht nachgewiesen hat, jenes diese Praxis wie auch die rechtlich fragwürdige Wasserprobe als Verfahrensmängel verworfen, woraufhin der Rat selbstbewusst kundgetan habe, man sei „dem Hochstift und regierenden Bischof nachgeordnet, folglich dem Reichskammergericht nicht unmittelbar unterworfen“ (S. 37). Ebenso sorgten mit Strafdrohungen bewehrte Mandate der landesherrlichen Kanzlei zwar zunächst für Irritation, wurden letztendlich aber gleichfalls ignoriert – womit „Bürgermeister und Rat von Osnabrück die vermeintlichen Privilegien über das geltende Recht (stellten)“ (S. 52). Erst das persönliche Erscheinen des damaligen protestantischen Landesherrn Gustav Gustavson 1639 in Osnabrück führte zur Entfernung Peltzers und zum endgültigen Aus der Hexenverfolgungen vor Ort. Nicht unerheblich war für den Umschwung, dass sich der Bürgermeister unter Einsatz einer populistischen, sozial-egalitären Argumentation mit Anna Ameldung und Anna Modemann gegen zwei ihm politisch missliebige Angehörige sozial hochgestellter Familien gewandt hatte, die zwar der Hinrichtung nicht zu entgehen vermochten, nichtsdestotrotz aber energischen juristischen Widerstand geleistet haben. Denn „(in aller Regel) waren die juristischen Möglichkeiten unbekannt und Verteidigungsversuche faktisch gar nicht zu organisieren“ (S. 32).
Während der Verfasser die zunehmende Kritik an den Hexenprozessen etwa am Beispiel des Pastors Gerhard Grave – er durchlief „einen bemerkenswerten Lernprozess“ (S. 58) und wandelte sich von einer treibenden Kraft zu einem beharrlichen öffentlichen Kritiker der Prozesspraxis – und zahlreiche rechtshistorisch bedeutsame Details ausreichend darstellt, wird die drängende Frage, weshalb fast ausnahmslos Frauen der Hexerei bezichtigt wurden, nicht aufgelöst. Die Abbildungen im Schwarzweißdruck zeigen zumeist Faksimiles der schriftlichen Dokumente, im Kontext relevante historische Bauwerke sowie Erinnerungsstätten. Hervorzuheben sind ferner das sehr solide Lektorat und das übersichtliche Quellen- und Literaturverzeichnis mit seiner präzisen Erfassung der Archivalien.
Kapfenberg Werner Augustinovic