Mühle, Eduard, Breslau – Geschichte einer europäischen Metropole. Böhlau Verlag:Köln/Weimar/Wien. 2015, 387 S., 28 Farbtafeln, 18 schwarz-weiße Abb., 2 Stadtpläne (im Umschlag).

 

Im Rahmen seiner Städtegeschichten mitteleuropäischer und osteuropäischer Städte legt der Verlag einen Band Eduard Mühles vor, der sich bereits 2014 dem Verhältnis von Breslau und Krakau gewidmet hat. Als Leiter des Deutschen Historischen Instituts in den Jahren von 2008 bis 2013 ist der Münsteraner Professor für osteuropäische Geschichte sachkundig ausgewiesen. In zehn Kapiteln, die jeweils einen Zeitabschnitt umfassen, schildert der Autor die Geschichte der Stadt von den 950er Jahren bis zur Gegenwart. Für Besucher der Kulturhauptstadt Europas des Jahres 2016 sind die wesentlichen Informationen zusammengetragen, die erlauben, das Werden dieser Stadt zu verstehen. Den einzelnen Kapiteln ist jeweils die Beschreibung eines für diesen Zeitraum bedeutsamen Gebäudes oder Ensembles vorangestellt, bevor die für die Zeit bestimmenden geschichtlichen Entwicklungen beschrieben werden. Anhand einer Person, die zu dieser Zeit in Breslau lebte, werden die Beschreibungen vertieft. Dem Pfalzgrafen Petrus, Herzog Heinrich IV., dem Ratsherrn Kaspar Popplau und dem Humanisten Johannes Crato von Crafftheim sind Porträts gewidmet. In späterer Zeit sind die Handwerkerfrau Anna Ursula Becker, der Wirtschaftspionier Gustav Heinrich Ruffer, der Stadtverordnete Adolf Heilberg, der Professor Hermann Aubin und der Theaterkünstler Henryk Tomaszewski, der 1919 als Heinrich König zur Welt gekommen war, als Zeugen ihrer Epochen gewürdigt. Gerade der Ausnahmekünstler Tomaszewski ist für seine Zeit bemerkenswert, denn er kehrte nach 1945 aus München, wo er mit Mutter und Bruder lebte, nach Breslau zurück, wenn er auch lange seine deutsche Herkunft verschwieg. Die lange Geschichte mit Deutsch als Regelsprache und die kürzere Zeit mit vorherrschend polnischer Sprache hat bei den Stadtplänen und an vielen Stellen des Textes leider keinen Niederschlag gefunden. Informativer und damit benutzerfreundlicher wäre es gewesen, zu den Stadtplänen Folien mit deutschsprachigen Einträgen zu geben und im Register durchgängig ein Register für polnische Namensformen und eines für deutsche Namensformen zu bieten. Da im Text mit den Namensformen in wechselnder Weise umgegangen wird, wäre auf diesem Wege ein Gewinn an Übersichtlichkeit erreicht worden. Ein heutiger Besucher der Stadt hat Schwierigkeiten, Scharouns architektonisch sehenswertes Wohnheim für Ledige (und junge Familien) (Farbtafel 18, S. 221) zu finden. 1939 war Breslau die achtgrößte Stadt des Deutschen Reichs (629565 Einwohner), 1995 hat die nunmehr zweitgrößte Stadt Polens die Einwohnerzahl um etwa 10000 Personen überschritten. Auf dem Weg zu dieser Veränderung ist in drei Kapiteln die Zeit von 1870 bis 1990 in überaus lesenswerter Weise geschildert. Das Erstarken der Wirtschaft in dieser Zeit und die damit einhergehende Wanderungsbewegung gaben Breslau für Schlesien eine große Bedeutung, führten jedoch gleichzeitig dazu, dass eine große Anzahl von Zuwanderern nach Berlin aus Breslau und seinem Umland kamen. Mit den Grenzänderungen in Folge des Ersten Weltkriegs und der Existenz eines polnischen Staates kam es zu einer skeptischen Einstellung gegenüber Polen in Breslau. Erst spät erreichten die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs Breslau, bis dann mit dem wahnwitzigen Einfall einer „Festung Breslau“ eine Zerstörung der Stadt eingeleitet wurde, die von dem Gebäudebestand der Vorkriegszeit wenig übrigließ. Der Verfasser schildert eindringlich das Zusammenwirken von Bombenschäden, Schäden während der Belagerung und der Zerstörung der frühen Nachkriegsjahre zur Gewinnung von Baumaterial für den Wiederaufbau Warschaus. Durch die Verantwortlichen der „Festung Breslau“ wurden schon während des Krieges teilweise bis dahin unzerstörte Gebäude zerstört, um etwa im Stadtgebiet eine Landebahn für Flugzeuge zu schaffen. Die Zahlen zu Zerstörungen der Stadt während der Kriegshandlungen zeigen, dass Breslau im Vergleich zu vielen anderen Städten nicht besonders stark zerstört war. Die Besonderheit war, dass Materialmangel nach den Kriegshandlungen zu weiteren Zerstörungen teilzerstörter Gebäude und unzerstörter Gebäude geführt hat. Im Zusammenhang hiermit ist die lange verbreitete Darstellung zu sehen, dass eine Vertreibung der deutschen Bevölkerung notwendig war, um den Polen aus den an die Sowjetunion gelangten Gebieten Polens Wohnraum zu geben. In dem Kapitel über die wiedergewonnenen Gebiete zeigt der Verfasser, dass keineswegs Breslau das nach Westen verpflanzte Lemberg wurde. Nur ein geringer Prozentsatz der vertriebenen Lemberger (10-20 %) siedelten sich in Breslau an. Kulturell prägende Einrichtungen Lembergs wie das Ossolineum und das Panoramabild der Schlacht von Raclawice wurden nach Breslau gebracht. Das Schlusskapitel zeigt, dass die Bemühungen einer Geschichtsklitterung (Wiedergewonnene Gebiete) in der Enkelgeneration der Neubürger hinterfragt werden und die Jahrhunderte der Zugehörigkeit zu Böhmen, zum Hause Habsburg und zu Preußen als zu entdeckende Realität der Stadt Wroclaw an Bedeutung gewinnen. Der Verfasser hat für die Arbeit in beeindruckender Vollständigkeit polnischsprachige Literatur herangezogen. Gleichzeitig vermittelt er leider den Eindruck, als gäbe es aus den Jahren 1950 bis 1985 fast keine deutschsprachige Literatur, die des Zitierens wert ist. Das Buch ist eine wertvolle und überaus lesenswerte Ergänzung zu marktüblichen Städteführern. Die mehr als 300 Zwerge der orangenen Alternative (S. 300), die heute allüberall in der Stadt zu sehen sind, sind ein belebendes Zeichen der geistvollen Fröhlichkeit in der Stadt und nicht nur Teil eines cleveren Marketings.

 

Neu-Ulm                                                                                            Ulrich-Dieter Oppitz