Ludyga, Hannes, Otto Kahn-Freund (1900-1979). Ein Arbeitsrechtler in der Weimarer Zeit (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 4, Leben und Werk Band 16). De Gruyter, Berlin 2016. VI, 110 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Auf der Welt besteht jenseits von Naturrecht und Völkerrecht kein einheitliches Recht, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsordnungen, mögen auch einzelne Rechtsvorstellungen weit verbreitet sein. Aus diesem Grunde werden Juristen in der Regel innerhalb einer konkreten Rechtsordnung sozialisiert, wenn auch Auslandsaufenthalte an vielen Stellen nachhaltig fördern können. Ein besonderes Schicksal widerfährt jedem, der gegen seinen Willen entwurzelt wird und in einer unbekannten Fremde neue Wurzeln suchen muss.
Nach der Einleitung des vorliegenden Werkes des 2006/2007 in München mit einer Dissertation über die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918 im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags promovierten, 2009 mit einer Schrift über obrigkeitliche Armenfürsorge im deutschen Reich von dem Beginn der frühen Neuzeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges habilitierten und 2015 an die Universität Saarbrücken berufenen Verfassers findet in der Rechtsgeschichte und Rechtskultur – abgesehen von Ausnahmen – bisher wenig Beachtung das Werk und Wirken deutscher Juristen, die 1933 in einem Prozess der „Selbstzerstörung Deutschlands durch den Nationalsozialismus“ aus ihrer Heimat vertrieben wurden (und emigrierten). Um dies auszugleichen untersucht die schlanke Studie das Werk und Wirken von Sir Otto Kahn-Freund, der 1933 als Jude und Sozialdemokrat aus dem Deutschen Reich nach Großbritannien floh und dort blieb. Im Vordergrund steht dabei zwar der Arbeitsrechtler Kahn-Freund in den vierzehn Jahren der Weimarer Republik vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Frankfurt am Main und Berlin, doch greift der Verfasser weit über diesen selbst gewählten Kern aus.
Gegliedert ist die bisher vernachlässigte Unterlagen auswertende Untersuchung insgesamt in sechs Abschnitte. Sie betreffen nach einer kurzen Einleitung die Jahre von 1900 bis 1933 mit der Geburt in Frankfurt am Main, der Dissertation bei Hugo Sinzheimer und der neuartige Einblicke in die Arbeitsgerichtsbarkeit der späteren Weimarer Zeit ermöglichenden Ernennung zum Richter am Arbeitsgericht in Berlin einschließlich der Entlassung aus der Justiz, die Jahre von 1933 bis 1945 mit der Flucht nach London und der anschließenden Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich, die unmittelbare Nachkriegszeit ohne Remigration nach Deutschland, das Wirken in Großbritannien und einen zusammenfassenden Schluss. Überzeugend ordnet der Verfasser dabei Kahn-Freund als einen der bedeutendsten Arbeitsrechtler im Europa des 20. Jahrhunderts ein, der sich auf der Grundlage seiner doppelten Ausbildung im deutschen Recht und im englischen Recht durch seine durch die ungewöhnlichen intellektuellen Erfahrungen ermöglichten grundlegenden wissenschaftlichen Leistungen weltweite Anerkennung erwarb.
Innsbruck Gerhard Köbler