Landes, Christopher, Sozialreform in transnationaler Perspektive. Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880-1914) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 236). Steiner, Stuttgart 2016. 386 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
In den Anfängen war es den Menschen innerhalb der sie umgebenden Gruppen überlassen, für sich und ihre Gruppen zu sorgen. Mit der Zunahme der Menschheit in der Neuzeit begann der Staat, die Gesellschaft als eine eigene Aufgabe zu verstehen. Mit dem Übergang von Macht an durch Wahlen zu Entscheidungszuständigkeiten gelangten Volksvertreter entstand die Einsicht, dass die große Zahl von Armen eine große Zahl von Stimmen zu vergeben hatte, so dass sich Sozialreformen zunehmend auch als politisches Ziel verwenden ließen.
Mit einem Teilaspekt dieser Thematik beschäftigt sich die vorliegende, zwischen 2010 und 2015 an der Universität Tübingen unter Betreuung durch Ewald Frie entstandene, durch ein Register von Abbott bis Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien aufgeschlossene Dissertation des 1984 geborenen, in neuerer Geschichte, neuester Geschichte, Politikwissenschaft und öffentlichem Recht ausgebildeten, in der Abteilung für Deutsch als Fremdsprache und interkulturelle Programme der Universität Tübingen und dem International Office der Hochschule Reutlingen sowie zuletzt als Bibliotheksreferendar an der Freien Universität in Berlin tätigen Verfassers. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über den Forschungsstand, die Quellen, die Begriffe Armenfürsorge, Fürsorgesystem, Fürsorgekultur, Fürsorgeexperten, Sozialreformbewegung, Armut, internationale Vernetzung und transnationale Verflechtung sowie Methode und Aufbau in vier Abschnitte. Sie betreffen die Formen grenzüberschreitender Beziehungen und das internationale Kongresswesen, die Fachgebiete Ausländerfürsorge und Fürsorge durch Arbeit, die Leitkonzepte und die Armuts- und Fürsorgediskurse.
Im Ergebnis kann der am Ende zu weiteren Einzelstudien ermunternde Verfasser feststellen, dass die Formen internationaler Vernetzungen in der bisherigen sozialgeschichtlichen Literatur noch unvollkommen berücksichtigt wurden. Demgegenüber kann er auf der Grundlage der von ihm verwerteten ungedruckten wie gedruckten Quellen darauf hinweisen, dass grenzüberschreitende Austauschvorgänge und Vernetzungsverfahren erhebliche Bedeutung für den sozialpolitischen Wandel in der von ihm untersuchten Zeit haben. Sowohl durch Studienreisen nach außen wie durch die Aufnahme fremder Fachliteratur und durch internationale Verbindungen verwirklichende Fachkongresse wurde eine erhebliche Verdichtung des internationalen Wissens über die Armenfürsorge mit Leitkonzepten wie kollektive Vorsorge statt individueller Fürsorge, Erziehung statt Strafe und Volksgemeinschaft statt bürgerlicher Ordnung erreicht, aus der nicht zuletzt das Deutsche Reich beachtlichen, wenn auch nicht in jeder Hinsicht unproblematischen gesellschaftspolitischen Gewinn zog.
Innsbruck Gerhard Köbler