Höchstrichterliche Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik, hg. v. Fischer, Christian/Pauly, Walter. Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XII, 332 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Zwischen 1933 und 1945 wurde nach allgemeiner Überzeugung auch die Rechtsprechung durch die nationalsozialistische Politik des Reichskanzlers Adolf Hitler und seiner Partei beeinflusst und zu Unrechtsurteilen gezwungen oder verführt. Demgegenüber zeichnet sich nach dem kurzen Vorwort der beiden Herausgeber des vorliegenden Sammelbands die 1949 von den westlichen Alliierten des zweiten Weltkriegs eingerichtete oder zugelassene Bundesrepublik Deutschland durch eine hochgradige Juridifizierung und Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft aus. Durch die Neuerrichtung der Bundesgerichte unter dem Grundgesetz und der Etablierung rechtsstaatlicher, freiheitlicher und demokratischer Strukturen wurde nach ihren Worten ein in dieser Form einmaliger Rechtswegestaat geschaffen.
Dessenungeachtet sehen sie die Behandlung der Rolle der Justiz in der frühen Bundesrepublik in eigenen historischen Darstellungen als unbefriedigend an. Gegenüber der Einordnung des Grundgesetzes als Erfolg werde der Interpretationsebene und Verwirklichungsebene keine gebührende bzw. nennenswerte Aufmerksamkeit gewährt. Da sich aber Verfassungen nicht von selbst vollzögen, sei die Geschichte der Bundesrepublik ohne die Geschichte der Durchsetzung der neuen Rechtsordnung und Wertordnung mittels der Verfassungsrechtsprechung und der Fachgerichtsbarkeiten unvollständig. Dies hätten bereits der Altbundeskanzler Helmut Schmidt und die frühere Generalbundesanwältin Monika Harms in einem Gespräch über die Spiegel-Affäre erkannt und betont.
Auf recht verschlungenen und langen Wegen ist das daraufhin entstandene, ursprünglich sehr breit konzipierte Forschungsprojekt bei den Herausgebern in Jena gelandet. Sie haben daraus ein deutlich verschlanktes und ohne Drittmittelstellen durchführbares Vorhaben eines großen Sammelbands erarbeitet, dessen Verwirklichung aber durch die Aktenfrage gehemmt worden sei, weil die Bereitschaft, die Akten zu öffnen, bei den Präsidentinnen und Präsidenten der Bundesgerichte sehr unterschiedlich ausgeprägt gewesen sei. Dies hat dazu geführt, das Forschungsthema zunächst zu dem Gegenstand einer Ringvorlesung zu machen, die bei überwältigender Teilnahmebereitschaft der örtlichen Kollegen in dem Sommersemester 2014 verwirklicht werden konnte.
Das vorliegende Buch stellt die 17 Beiträge nunmehr der Allgemeinheit zur Verfügung. Es beginnt mit Walter Paulys Beschreibung des unaufhaltsamen Aufstiegs des Bundesverfassungsgerichts im Wege der Selbstinszenierung eines Verfassungsorgans. Ihr ordnet Christoph Ohler auch die Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft durch das Bundesverfassungsgericht als Türhüter des offenen Staates zu.
Dem folgen Überlegungen zu dem Bundesgerichtshof und seiner frühen Zivilrechtsprechung, zu dem Einfluss des Verfassungsrechts an dem Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, zu dem Unternehmensrecht, zu dem internationalen Privatrecht, zu Aufräumen und „neu Beginnen“, zu Skalen der strafrechtlichen Verantwortung für Systemunrecht und zu Sinn und Unsinn in der „öffentlichen“ Hauptverhandlung unter besonderer Berücksichtigung Fritz Bauers (1903-1968) als Generalstaatsanwalts. Für das Bundesverwaltungsgericht werden die Herausbildung des Parteibegriffs, die wirtschaftliche Freiheit in dem paternalistischen Staat und die Bedeutung des Völkerrechts hervorgehoben. Achim Seifert widmet sich dem Bundesarbeitsgericht in der „Ära Nipperdey“, Eberhard Eichenhofer dem Bundessozialgericht und Anna Leisner-Egensperger dem Bundesfinanzhof.
Außerhalb der bundesrepublikanischen Höchstgerichtsbarkeit verfolgt Matthias Ruffert die Entstehung einer europäischen Gerichtsbarkeit in dem Großherzogtum Luxemburg. Gerhard Lingelbach bietet eine wertvolle und sachgerechte Ergänzung hinsichtlich der Aufgaben, Zuständigkeiten und Spruchpraxis des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik unter dem Titel „es soll schnell und richtig urteilen“. Insgesamt erreicht der leider eines benutzerfreundlichen Sachverzeichnisses entbehrende Band seine gesetzten Ziele in überzeugender, lebendiger und detailreich weiterführender Weise, auf der eine einheitliche Gesamtdarstellung bestmöglich aufbauen kann.
Innsbruck Gerhard Köbler