Goschler, Constantin/Wala, Michael, „Keine neue Gestapo“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit. Rowohlt, Reinbek 2015. 464 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Auch 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ist deren sogenannte Aufarbeitung im Wege der geschichtswissenschaftlichen Durchleuchtung von Institutionen, die entweder während der nationalsozialistischen Ära durch unmittelbare Beteiligung und/oder im Anschluss an diese durch personelle Kontinuitäten belastet sind, noch nicht zum Abschluss gekommen. Das grundsätzliche Misstrauen, mit dem die Zivilgesellschaft auf geheimdienstliche Aktivitäten blickt und das im Falle vermeintlichen oder tatsächlichen Versagens solcher Dienste verstärkt auflebt (Enthüllungen über die Ausspähungen der US-amerikanischen National Security Agency [NSA]; Fehler und Versäumnisse im Zuge der Aufklärung des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds [NSU]), wirft immer wieder auch Mutmaßungen über den (Un-)Geist auf, der in den entsprechenden Instanzen der Bundesrepublik Deutschland womöglich herrsche. Sowohl der für das Ausland zuständige Bundesnachrichtendienst (BND) als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als etablierter Inlandsnachrichtendienst haben sich daher in der jüngeren Vergangenheit trotz ihrer legitimen Geheimhaltungsinteressen dem Ruf nach mehr Transparenz geöffnet und bestimmten externen unabhängigen Historikern Zugang zu essentiellen Teilen ihrer Aktenbestände gewährt. Im Fall des Bundesamts für Verfassungsschutz erging eine Ausschreibung des Beschaffungsamts des Bundesinnenministeriums für eine „Organisationsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1950-1975, unter besonderer Berücksichtigung der NS-Bezüge früherer Mitarbeiter in der Gründungsphase“. Die beiden an der Ruhr-Universität Bochum lehrenden Professoren für Geschichte Constantin Goschler und Michael Wala erhielten den Zuschlag und begannen 2011 ihre Forschungen unter der Bedingung, „dass wir nicht allein in unseren Fragestellungen und Zugriffsweisen völlig unabhängig sein müssen und die Ergebnisse in einem Verlag unserer Wahl publizieren können, sondern auch, dass es keine Eingriffe in die Darstellung unserer Ergebnisse geben wird und zudem sämtliche von uns im Bundesamt für Verfassungsschutz ausgewerteten Quellen nach Abschluss des Projekts dem Bundesarchiv übergeben werden“ (S. 14). Das Resultat dieser Bemühungen liegt nun in Gestalt der gegenständlichen Druckschrift vor.
Die Entwicklung des als „Dienststelle Köln“ 1950 zur Abwehr extremistischer Bewegungen als „Neugründung [… ohne] Kontinuitäten oder Vorgängerorganisationen“ aus der Taufe gehobenen, zunächst dreigliedrigen (Abteilung I: Personal und Verwaltung; Abteilung II: [Informations-]Beschaffung; Abteilung III: [Informations-]Auswertung) BfV verlief bis zum Auslaufen des Besatzungsstatuts am 1. Mai 1955 unter Kuratel der Westalliierten. Ihr einheitliches Credo: „Die neue Behörde durfte unter keinen Umständen eine neue Gestapo werden“ (S. 26). Die alliierten Sicherheitsdirektoren hatten so das letzte Wort in Personalsachen und verhinderten den ehemaligen Abwehr-General und späteren BND-Chef Reinhard Gehlen im Amt des ersten Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz. Diese Position fiel 1950 bis 1954 dem wegen seiner Tätigkeit für die britische Militärstaatsanwaltschaft bei der Vorbereitung des Prozesses gegen die ehemaligen Feldmarschalle von Rundstedt, von Brauchitsch und von Manstein in weiten Kreisen umstrittenen Juristen Otto John zu, einem Kandidaten „nicht einmal zweiter, sondern der neunten Wahl“, der „über keine einschlägigen Qualifikationen“ für seine sensible Aufgabe verfügte (S. 52). Die Loyalität seines Stellvertreters Albert Radke galt, wie auch die einer Reihe weiterer Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz, zu allem Überfluss Gehlen.
Um ein unerwünschtes Übergewicht der Abwehrleute in dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu verhindern, forderten die Alliierten die Einstellung ehemaliger Kriminalpolizisten. Das Problem: „Im Unterschied zur Beschäftigung einfacher Parteimitglieder im Bundesamt stieß die offizielle Einstellung ehemaliger Angehöriger von SS, SD und Gestapo auf den entschiedenen Widerstand der Alliierten“. Um diesen zu umgehen und um „wirksame Erfolge zu erzielen, mit denen sich die Arbeit der Behörde politisch und öffentlich legitimieren ließ“, wurde über finanzielle Mittel der „Titelgruppe 300“, einer Art schwarzen Kasse, gleichsam ein inoffizielles „Nebenbundesamt“ ins Leben gerufen. Funktionäre aus dem inkriminierten Personenkreis, auf deren Expertise man nicht verzichten konnte oder wollte, wurden – wohl auch mit Wissen der alliierten Nachrichtendienste – als „freie Mitarbeiter“ beschäftigt; de facto waren sie aber Angestellte des Bundesamts für Verfassungsschutz, denen „erst von 1957 an der offizielle Weg ins Bundesamt offen stand, für das sie zuvor jahrelang tätig gewesen und von dem sie zumeist nach Tarif bezahlt worden waren“ (S. 70f.). Dieser Wildwuchs wurde durch die Führungsschwäche Johns und der zentralen Personal- und Verwaltungsabteilung gefördert, ein Vakuum, in das vor allem der Leiter der Abteilung Beschaffung, Richard Gerken, mit der Akquisition einschlägig NS-belasteter „freier Mitarbeiter“ für die Kölner Zentrale sowie die Außenstellen über eine „Dokumentenforschung“ betitelte Tarnfirma stieß. Der vom Kalten Krieg geprägte allgemeine Antikommunismus machte es Leuten wie Johannes Strübing, der einst im nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der Sonderkommission „Rote Kapelle“ angehört hatte und Anfang 1952 als „freier Mitarbeiter“ zum Bundesamt für Verfassungsschutz stieß, leicht, dieses Phantom eines umfassenden sowjetischen Spionagenetzes, dessen Aufdeckung man emsig betreibe, als aktuelle Bedrohung zu revitalisieren.
Die in Folge des skandalträchtigen Abgangs Johns (er trat 1954 unter mysteriösen Umständen in die Deutsche Demokratische Republik über) vorgenommenen Personal- und Organisationsüberprüfungen durch das Innenministerium führten 1957 unter Präsident Hubert Schrübbers, der 1955 dem interimistischen Präsidenten Hanns Jess nachgefolgt war, zu einer Neustrukturierung des Bundesamts für Verfassungsschutz: Die Abteilung I (Personal, Verwaltung) wurde dem Präsidenten direkt unterstellt, dazu traten als weitere Abteilungen II (Rechtsradikalismus), III (Linksradikalismus), IV (Spionage- und Sabotagebekämpfung) und V (Geheimschutz), die Aufgaben Beschaffung und Auswertung wurden zusammengeführt und so in die jeweiligen Fachabteilungen integriert. „Freie Mitarbeiter“ wurden nun, soweit sie sich „nach 1945 politisch zurückgehalten hatten“ (S. 191), offiziell fest in das Dienstverhältnis übernommen. Es bedurfte der Anfang der 1960er-Jahre eintretenden vergangenheitspolitischen Zäsur und einiger medial forcierter Skandale (darunter besonders die sogenannte „Abhör-Affäre“ 1963), diesen Zustand wieder zu revidieren: 1964 sei im Bundesamt für Verfassungsschutz kein einschlägig durch eine SS- oder Gestapo-Vergangenheit belasteter Beamter mehr tätig gewesen, bis zu dem Ende der 1960er-Jahre auch kein Angestellter mehr, wobei hier von nur 16 Personen insgesamt die Rede ist. Entweder waren diese Leute in andere Behörden versetzt worden oder in den Ruhestand getreten.
Die Verfasser betonen, dass „die Skandalisierung biographischer NS-Belastungen“ sich nicht trennen lasse „von der Konkurrenz zwischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst[,] mehrfach kam es dabei zu einem Gabentausch zwischen Nachrichtendiensten und Presse, bei dem Informationen gegen publizistische Schützenhilfe getauscht wurden“; im Ergebnis „(erhöhte) die öffentliche Debatte um die NS-Vergangenheit die gesellschaftlichen Erwartungen an die Transparenz des Bundesamts“ (S. 237f.). Auf dem Höhepunkt des Streits um die Neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition 1972 nutzte Innenminister Genscher dann „die öffentliche Meinung als politisches Argument, um den schon lange unbequem gewordenen Schrübbers entlassen zu können, ohne dessen Rechtfertigungsgründe diskutieren zu müssen“ (S. 342). Die lange bekannte Tätigkeit des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz als Staatsanwalt in politischen Strafsachen während der NS-Zeit war nun medial befeuert und gegen ihn instrumentalisiert worden. Sein Nachfolger, der allzu kommunikationsfreudige Günther Nollau, musste sich ebenfalls Angriffen wegen seiner einstigen NSDAP-Mitgliedschaft erwehren, stürzte aber erst über die Affäre Guillaume, die Enttarnung des persönlichen Referenten Bundeskanzler Brandts als DDR-Spion, bevor mit Dr. Richard Meier 1975 endgültig eine von der Vergangenheit nicht mehr belastete Persönlichkeit die Führung des Amts übernahm. Die Fälle Schrübbers und Nollau zeigten, „dass es nicht mehr um die in der Frühzeit der Bundesrepublik bedeutsame Frage ging, ob das Bundesamt eine Neuauflage der Gestapo werden könnte“, sondern dass es sich „um öffentlich ausgetragene Stellvertreterkonflikte“ handelte unter Anwendung der „Methode, politische Gegner durch den Hinweis auf personelle NS-Belastungen zu diskreditieren“ (S. 345f.). Nichtsdestotrotz lassen die Geschichte des Bundesamts für Verfassungsschutz und insbesondere der Umgang mit seinem Personal klar erkennen, wie der gesellschaftlich noch akzeptierte Grad an nationalsozialistischer Kontaminierung im Lauf der Zeit mehr und mehr in Richtung Nulltoleranz herabgeschraubt wurde.
Dafür, dass sich aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz keine neue Gestapo entwickelt, sorgen andere Sicherungen. Das Trennungsgebot untersagt seit jeher die Zuweisung von Exekutivbefugnissen, ebenso besteht kein Weisungsrecht gegenüber den Landesämtern. Diese Konstruktion hat in der Arbeitspraxis bisweilen zu fehlender Effizienz geführt, sollte doch das Amt die Vorarbeiten zur Anklage der politischen Straftatbestände Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat leisten, die das Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 wieder eingeführt hatte. Hanns Jess, interimistischer Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und ehemaliger Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), forderte daher bereits 1954 so dezidiert wie vergeblich die Eingliederung des Verfassungsschutzes in die Polizei. Seit 1965 unterliegen Bundesamt für Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst (MAD) wie schon zuvor auch der Bundesnachrichtendienst der Aufsicht eines (von Regierungsinformationen abhängigen) Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums, das 1978 vom schlagkräftigeren, auf gesetzlicher Grundlage operierenden Parlamentarischen Kontrollmännergremium abgelöst worden ist.
Das Selbstverständnis des Bundesamts für Verfassungsschutz sei lange vom Gedanken des Staatsschutzes im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ bestimmt gewesen. Bedingt durch die Erfahrung häufig wechselnder Systeme, habe es diese Orientierung auf den Staat frei nach dem Motto „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ (Otto Mayer) ehemaligen SD-Leuten nicht schwer gemacht, ihre Loyalität auf neue Dienstherren zu übertragen. Im Vergleich mit der Sicherheitsexekutive nimmt sich die Anzahl der Belasteten mit einem gravierenden nationalsozialistischen Engagement im Bundesamt für Verfassungsschutz allerdings bescheiden aus; so habe das Führungspersonal des unter der Ägide der amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA) eingerichteten Bundeskriminalamts 1958 gar zu 70 % aus ehemaligen SS-Leuten bestanden, sein Organisator und späterer Präsident, Paul Dickopf, sei zugleich besoldeter CIA-Agent und früher ebenfalls SS-Mitglied gewesen. Mit der Abwendung vom Staat und der Konzentration der politischen Kultur auf den Begriff der Gesellschaft habe dann generell ein anderes Verständnis der Inneren Sicherheit Einzug gehalten.
Abgesehen von einigen offensichtlichen Versehen (S. 76: „Grenzgebiet zwischen Oberkrain und der Obersteiermark“ statt „Untersteiermark“; S. 115: „des Reichshauptamts“ statt „Reichssicherheitshauptamts“; S. 188: „Robert Stelljes“ statt „Rudolf“) liefern die Verfasser eine verlässliche Geschichte des Bundesamts für Verfassungsschutz im behandelten Zeitraum. Die problemorientierte Einbindung in unterschiedliche, das Selbstverständnis und die Fremdwahrnehmung der Behörde bestimmende Kontexte (Aufgaben, Strukturentwicklung, Einfluss auswärtiger Dienste, transatlantische Beziehungen, gesellschaftliche und politische Entwicklung, Medien) vermittelt jene komplexen Lebenswelten, von denen jedes Unternehmen abhängig ist und in deren Rahmen es sich mit seinen Funktionen zu realisieren hat. Damit erfüllt diese Studie jedenfalls die Ansprüche, die heutzutage an Institutionengeschichten gestellt werden müssen. Man möchte fast bedauern, dass der Auftrag an die Verfasser die folgenden vier Jahrzehnte des Bundesamts für Verfassungsschutz nicht mehr berührt.
Kapfenberg Werner Augustinovic