Das letzte Jahr der DDR. Von der Volkskammerwahl zur Wiedervereinigung, hg. v. Apelt, Andreas H./Grünbaum, Robert. Metropol, Berlin 2015. 145 S. Besprochen von Steffen Schlinker.
Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik nimmt in der Geschichte des Parlamentarismus einen der Sonderplätze ein. Nur für gut fünf Monate, vom 5. April bis zum 2. Oktober 1990, war die Volkskammer ein wirkliches Parlament mit gewählten Volksvertretern. Und es war ein Parlament, dass sich und seinen Staat selbst abgeschafft hat, um die Wiedervereinigung mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland zu vollziehen. Deswegen hat die Volkskammer der DDR, die über 40 Jahre lang ein Schattendasein führen musste, trotz ihrer kurzen Wirkungsdauer historische Bedeutung erlangt. Dem letzten Jahr der Volkskammer, von der Demokratiebewegung seit dem Herbst 1989 bis zur letzten Sitzung der Volkskammer am 2. Oktober 1990, ist daher der hier vorzustellende zeitgeschichtliche Band gewidmet, der teils Vorträge, teils Redebeiträge in den Diskussionsrunden zusammenfasst. Es liegt von vorneherein nicht in der Absicht der Herausgeber, die Volkskammer und den Weg zur Wiedervereinigung systematisch darzustellen, vielmehr sollen die Ereignisse bewusst aus unterschiedlicher Perspektive und vor allem aus der Sicht der unmittelbar beteiligten Volkskammerabgeordneten beleuchtet werden.
Als erste Zeitzeugin kommt Sabine Bergmann-Pohl, einstige Präsidentin der Volkskammer vom April bis zum Oktober 1990, zu Wort (S. 9-15). Sie ruft die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Abgeordneten der Volkskammer ins Gedächtnis zurück, etwa das Fehlen technischer Hilfsmittel, und gibt einen hilfreichen Überblick über die auch im Rückblick bemerkenswert intensive Arbeit der Volkskammer. So erinnert Frau Bergmann-Pohl an das verfassungsändernde Gesetz vom 17. Juni 1990, durch das die DDR sich als „freiheitlichen, demokratischen, föderativen, sozialen und ökologisch orientierten Rechtsstaat“ bezeichnen konnte. Schon am 21. Juni 1990 folgten das Gesetz zur Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, am 22. Juni 1990 das Ländereinführungsgesetz und am 23. August 1990 der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Am 20. September nahm die Volkskammer schließlich das Gesetz den Einigungsvertrag betreffend an. Damit war der Weg zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 frei.
Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt widmet sich in seinem Vortrag dem letzten Jahr der DDR in seiner historischen Dimension (S. 69-86). Patzelt hebt hervor, der Zusammenbruch der DDR sei erfolgt, als Michael Gorbatschow den Glauben an die weltweite Ausbreitung des Sozialismus aufgegeben hatte (S. 79). Angesichts von Willkürherrschaft und zentralverwalteter Mangelwirtschaft war die DDR im Sommer 1989 tatsächlich wirtschaftlich und geistig-ideologisch ausgezehrt. Alfred Grossers Überlegungen stellen die Entwicklung von 1989/1990 in den Rahmen der europäischen Zusammenarbeit (S. 45-54). Er erinnert darin, dass die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften die Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens zur Wiedervereinigung möglicherweise erleichtert hat. Die Einmaligkeit der Ereignisse von 1989/1990 und der Geschichte der Volkskammer hebt Norbert Lammert prägnant hervor: „was diesen autoritären Staat der DDR aber von anderen unterscheidet, war die Art seiner Überwindung: Sie war ebenso beispiellos wie beispielhaft. Einen vergleichbaren Vorgang hat es in der europäischen Geschichte nie gegeben.“ (S. 66)
Den besonderen Reiz des Buches aber machen vor allem die Berichte der Zeitzeugen aus. Hier kommen diejenigen zu Wort, die sich seit dem Spätsommer 1989 politisch engagierten und als Abgeordnete seit der Wahl vom März 1990 der Volkskammer angehörten. Spannende Selbstzeugnisse vermitteln die Podiumsdiskussionen über die Bedeutung der Volkskammer für den Demokratisierungs- und Einigungsprozess (S. 25-43) sowie über das letzte Jahr der DDR und seine historische Dimension (S. 87-111). Abschließend findet sich noch eine Befragung der Zeitzeugen durch Schüler verschiedener Berliner und Brandenburger Gymnasien zum Thema „Von der Volkskammerwahl zur Wiedervereinigung“ (S. 113-137).
Hier werden noch einmal die Lebensbedingungen angesichts von Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl und der Überwachung durch die Staatssicherheit, aber auch der Aufbruch, die Lernprozesse und die unerfüllten Träume lebendig. Es war die Zeit, als sich das Volk anschickte, „die eigene Angst zu überwinden.“ (Stephan Hilsberg, S. 116). Rückblickend überrascht das hohe Tempo der Entscheidungen zwischen dem Herbst 1989 und dem Herbst 1990, obwohl alle Beteiligten zunächst von einem viel längeren Zeithorizont ausgegangen waren. Die enorm schnelle Wiedervereinigung erklärt sich allerdings aus zwei Faktoren, auf die besonders Lothar de Maizère und Markus Meckel hinweisen: erstens aus der fortdauernden Umsiedlung von Arbeitskräften aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland, zweitens aus der unsicheren innenpolitischen Lage der Sowjetunion und der Zahl von 400.000 sowjetischen Soldaten auf dem Boden der DDR. Tatsächlich wurde der 2 + 4 Vertrag erst im März 1991 vom Obersten Sowjet in der Sowjetunion ratifiziert. Ganz beiläufig wird mit der Frage, ob es tatsächlich ein Versprechen der NATO gegenüber der Sowjetunion gab, keine ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes in das Bündnis aufzunehmen, auch eine für die gegenwärtige politische Lage aktuelle Problematik diskutiert.
Erscheint in der Rückschau die Entwicklung zur Wiedervereinigung folgerichtig gewesen zu sein, sah die ex-ante Betrachtung ganz anders aus. Die Einschätzungen vieler politischer Publizisten kurz vor dem Herbst 1989 gingen völlig fehl. Noch im September 1989 glaubte der Chefredakteur der ZEIT, Theo Sommer, feststellen zu können, die deutsche Frage sei nicht aktuell.
So wird auch in vielen Beiträgen noch immer das ungläubige Staunen der Autoren spürbar, das erste Glück der Freiheit erlebt und an der Gestaltung der neuen Lebensverhältnisse mitgewirkt zu haben. Jürgen Engert sagt dazu anschaulich: „Große Zeit ist immer nur, wenn's auch schiefgehen kann.“ (S. 19). Es habe eben an einem Muster gefehlt, aus einer Diktatur eine Demokratie zu formen (Engert, S. 22).
Schülern, denen die DDR und ihr Unrechtsregime mittlerweile unbekannt geworden ist und welche die freiheitliche Demokratie als selbstverständlich hinnehmen, ist dieses Buch dringend zur Lektüre empfohlen. Als Gabe zum Schulabschluss wäre es gut geeignet.
Würzburg/Tallinn Steffen Schlinker