Darnstädt, Thomas, Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Piper, München 2015. 416 S., 16 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die Aufbereitung von Rechtsthemen für interessierte Laien stellt allemal eine Herausforderung dar, da die übliche akademische Fachterminologie sowohl an das juristische Wissen als auch an die Lesefähigkeit der Rezipienten mithin erhebliche Ansprüche stellt. Fachlich einschlägig geschulte Journalisten sind daher kraft ihres öffentlichkeitsorientierten Arbeitsalltags besser als Gelehrte in der Lage, jenen Ton zu bilden, der den Nerv eines Massenpublikums zu treffen vermag. Gründlich recherchiert und spannend erzählt, können derart auch komplexe Sachverhalte ankommen, ohne dass solche Texte in die Falle unzulässiger Simplifizierung tappen müssen.
Einer, der es versteht, Rechtsmaterien auf kurzweilige Art und Weise, aber dennoch inhaltlich erstaunlich präzise an den Mann (und natürlich auch an die Frau) zu bringen, ist der Hamburger promovierte Jurist und „Spiegel“-Journalist Thomas Darnstädt. 2009 hat er beispielsweise unter dem Titel „Der globale Polizeistaat“ in populärer Manier die sich im Angesicht der Terrorgefahr zunehmend öffnende Schere zwischen Freiheit und Sicherheit thematisiert. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich, beraten von Experten wie Christoph Safferling, Eckart Conze oder Claus Kreß, nach eigener Aussage intensiv mit dem Nürnberger Internationalen Militärtribunal (IMT), das über die Führungselite des nationalsozialistischen Deutschland zu Gericht saß. Die Bedeutung, die dieses Verfahren für die Schaffung und weitere Ausgestaltung eines justiziablen Völkerstrafrechts, „für das künftige Recht von Krieg und Frieden“ (S. 402) hat, ist der tiefere Grund dieses Interesses, denn „die Völkergemeinschaft braucht eine Instanz, die eine Verletzung der Grundnormen ihres Zusammenlebens nicht ungeahndet lässt“ (S. 12). Mehr als drei Viertel des nun hier vorliegenden, um die 400 Seiten umfassenden Bandes beschäftigen sich mit der Etablierung und dem Ablauf des IMT bis zur Vollstreckung der Urteile unter Diskussion der prekären, die Fachwelt umtreibenden Rechtsprobleme; der Rest des Textes gilt dem Fortwirken des Prozesses und der zwiespältigen Rezeption der Impulse, die bis in die unmittelbare Gegenwart andauern und in der Schaffung und der Arbeit des International Criminal Court (ICC) in Den Haag ihren bislang fruchtbarsten Niederschlag gefunden haben.
„Kann ein Strafurteil den Lauf der Geschichte verändern? Es kann – wenn es für die Weltpolitik ein Präjudiz ist. Um zum Präjudiz zu werden, muss ein Urteil neues Recht schaffen und darf das alte, bislang geltende Recht nicht desavouieren. Wenn die Nürnberger Richter dem Völkerrecht nichts Neues hinzugefügt hätten, dann hätte das Urteil keine Bedeutung gehabt […]. Wäre es aber allzu neu gewesen, was die Richter da festgesetzt hätten, in Widerspruch zu den anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts, dann hätte es ebenfalls keine Kraft entfalten können, weil es dann von den Völkerrechtlern und den von ihnen beratenen Politikern nicht als Recht, sondern als Unrecht betrachtet und als Fehlurteil missachtet worden wäre“ (S. 270). Dass diese Gratwanderung bewältigt wurde, sei ganz wesentlich dem Einsatz des Nürnberger Chefanklägers Robert H. Jackson zu verdanken: „Die Erklärung der Menschenrechte, das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, die weltweite Ächtung des Völkermordes als Verbrechen: Ohne diesen unglaublich ehrgeizigen und eloquenten Provinzanwalt aus Jamestown wäre es so weit nie gekommen“ (S. 51). Im Zentrum stand zunächst die Idee der Brandmarkung des ungerechtfertigten Angriffskrieges als Verbrechen; Kriegsverbrechen und Menschlichkeitsverbrechen waren in den IMT-Verfahren nach der Charta von London an den Angriffskrieg gekoppelt.
Dass die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 geltende Völkerrechtsordnung, die den souveränen Staaten die Entscheidung über Krieg und Frieden überlassen hatte und Übergriffe der Staatsführung gegen eigene Staatsbürger als innere Angelegenheit und völkerrechtlich irrelevant betrachtete, nicht mehr den Anforderungen der Zeit entsprach, war bereits während des Ersten Weltkriegs offenkundig geworden. Prozesse vor nationalen Gerichten wie dem Leipziger Reichsgericht – von Gerd Hankel (2003) ausführlich dargestellt – erwiesen sich wenig überraschend als ineffizient. Mit der notwendigen Ahndung der vom nationalsozialistischen Regime zu verantwortenden Verbrechen, allen voran dem Holocaust, hatte sich somit eine paradoxe Situation eingestellt, nämlich „dass das Recht gerade deshalb versagte, weil höchstes Unrecht geschah“, was „nur noch dadurch überboten (wurde), dass […] die Täter (weil sie Politiker waren) Immunität genossen“ (S. 24). Es wurde augenscheinlich, „welche Rechtlosigkeit im Völkerrecht herrschte“ (S. 106). Der Nürnberger Ankläger Jackson machte daher schon in seinem einleitenden Vortrag eines klar: „Es ging ihm nicht um die Bewährung einer Rechtsordnung, die er als zahnlos erlebt hatte, es ging ihm um die Bewährung der Moral“ (S. 148f.).
Um diesen Kern entwickelt der Verfasser, visuell unterstützt von den Schwarzweiß-Fotografien des zentral angelegten Bildteils, die Dramaturgie des Prozesses, bevor er dann den weiteren Gang der Ideen von Nürnberg verfolgt, deren Erfolg zunächst keineswegs sicher schien. Sämtliche Kapitel betonen ihren erläuternden Charakter durch ihre Untertitelung mit einprägsamen „Wie“-Sätzen. Der Leser erfährt so, „wie die Idee für ein Tribunal entstand, wie die Strafgesetze geschrieben und die Verbrecher gefangen wurden, wie die Ermittler in ganz Europa nach Beweisen suchten, wie die Juristen die Nazidiktatur zur Strafsache machten, wie der Prozess zum Drama wurde, wie Hitlers Helfer ihre Taten erklärten, wie die Richter zu ihrem Urteil kamen, wie Hermann Göring vom Blitz getroffen wurde, wie die Todesurteile vollstreckt wurden, wie die Nürnberger Friedensordnung in den Kalten Krieg geriet“ und schließlich „wie die Völker der Welt versuchen, Frieden durch Recht zu machen“. Selbstverständlich wird das Göring-Kreuzverhör als ein dramatischer Höhepunkt des Prozesses ausreichend gewürdigt, ebenso die demaskierenden Zeugenaussagen des Einsatzgruppenführers Otto Ohlendorf und des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Die atmosphärische Schilderung der Vorbereitungen für die Hinrichtung der zum Tode Verurteilten wandelt in ihrer Schnoddrigkeit hart an der Grenze zum Trivialen: „Nun blickt die Welt auf ihn, […] sie […] warten, dass er, Joe Malta, die Nazis aufhängt. Natürlich ist Joe nicht allein da; ein ganzes Team von Henkern hat John, der Boss, da aufgetrieben und angelernt. Doch für Joe ist es die Premiere. Es riecht nach Abenteuer, nach Whiskey und Filterkaffee und Virginiazigaretten. […] Von den drei Galgen hängen die Schlingen mit den dreizehn Knoten: ‚Da darf nichts lose sein‘, hat Joe gelernt. Dreizehn, das muss die Schlüsselzahl der Hangmen sein“ (S. 326f.). So würde man das mit Sicherheit in keiner akademischen Schrift lesen.
Doch derartige journalistische Eskapaden dürfen nicht den Blick auf die Ernsthaftigkeit verstellen, mit der sich der Verfasser durchgehend um die Verfolgung der Rechtsprobleme und des weiteren Ausbaus des Völkerrechts kümmert. Neueste Forschungsergebnisse wie jene Irina Schulmeister-Andrés sind in die Darstellung ebenso eingeflossen wie die Stellungnahmen von Völkerstrafrechtsexperten wie Hans-Peter Kaul oder Claus Kreß; für jedes Kapitel existiert je ein eigener Literaturnachweis. Auch Rechtsgutachten Carl Schmitts und Hans Kelsens zum zentralen Problem des Rückwirkungsverbots – es ist fraglich, ob es ein solches im Völkerrecht überhaupt gibt – werden zur Diskussion gestellt (vgl. S. 290f.). Originell ist das Zahlenspiel, das die Errungenschaften des Reichskammergerichts von 1495, als „das staatliche Gewaltmonopol und der Rechtsstaat als innerstaatliche Friedensordnung […] ihren Ausgang (nahmen)“, zu 1945 und den Nürnberger Zielen einer „Neuordnung der Welt nach den Grundsätzen des Rechts“ (S. 138f.) in Beziehung setzt. Trotz der durch den Kalten Krieg verursachten Rückschritte und Verzögerungen konnten sich die Nürnberger Prinzipien Raum schaffen: in der UN-Konvention zum Völkermord, der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs ICC. Angesichts zweifelhafter Anklagen und der Zunahme asymmetrischer Konflikte unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure gelte es aber auch auf Kompetenzabgrenzung zu achten, denn „die Weltjustiz greift dann, aber auch erst dann ein, wenn es um Unrecht geht, das die Souveräne mit ihrer eigenen Rechtsordnung typischerweise nicht bewältigen können […,] wenn es das Unrecht des Staates selbst ist, das zur Diskussion steht – oder wenn das Unrecht im Bürgerkrieg von einer Bevölkerungsgruppe ausgeht, die man nicht vor Gericht bringen kann, weil sie dafür (schon) zu mächtig ist“ (S. 400).
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Recht für den Menschen geschaffen wurde und nicht umgekehrt, auch wenn die Komplexität moderner Rechtssysteme bisweilen an dieser Einsicht zweifeln lässt. Fragen der Dogmatik können daher nicht die primäre und einzige Richtschnur der Rechtsfortbildung sein. Thomas Darnstädts erhellende Darlegungen rühren an substantielle Fragen der Rechtsordnung: Recht steht bei ihm vornehmlich als Mittel des Schwächeren gegen die Allgewalt des Starken und hat in seiner klassischen Schutzfunktion die Interessen des Individuums gegenüber der übermächtigen Staatsgewalt zu wahren. Die aus den Errungenschaften des Nürnberger Tribunals erwachsenen Normen und Institutionen bilden ohne Zweifel einen wichtigen Fortschritt auf diesem Weg.
Kapfenberg Werner Augustinovic