Daniels, Mario, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbandes an der Universität Tübingen 1918-1964 (= Contubernium 71). Steiner, Stuttgart 2009. 393 S.
Mario Daniels Studie über die Entwicklung des Fachbereichs Geschichtswissenschaft an der Universität Tübingen ist ebendort am Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ entstanden und wurde mit dem dortigen Promotionspreis ausgezeichnet. Es handelt sich hier um eine quellengesättigte Arbeit aus dem Universitätsarchiv und den Akten des Kultusministeriums.
Die fünf Hauptkapitel sind diachron angelegt. Im ersten Kapitel beschreibt der Verfasser diejenigen Faktoren, die für akademische Karrieren in einem sich permanent ändernden institutionellen und politischen Rahmen bestimmend sind. Im Zentrum dieses Kapitels steht eine biographische Fallstudie, die als exemplarisch für die Berufslaufbahn eines Tübinger Privatdozenten gelten kann. Die Rekonstruktion des institutionellen Ablaufs von Berufungsverfahren und insbesondere die Fragen, inwieweit in Berufungsverfahren politische Anforderungen formuliert oder sie staatlicherseits beeinflusst wurden, sind die Themen des zweiten Kapitels. Der Untersuchungszeitraum liegt hierbei schwerpunktmäßig auf der NS-Zeit und der Besatzungszeit. Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über die Institutionalisierungsprozesse im gesamten Untersuchungszeitraum, vor allem im Hinblick auf erfolgreiche und misslungene Lehrstuhlgründungen. Beim vierten Kapitel handelt es sich um eine Fallstudie zum Fach Auslandskunde, das seine Bedeutung darin hat, dass es der Volksgeschichte, die außeruniversitär sehr einflussreich war, in Tübingen ein Dach bot. Auch das letzte Kapitel ist eine Fallstudie. Es zeichnet die langen Traditionslinien aus dem 19. Jahrhundert nach, die schließlich in den 1960er Jahren in die Einrichtung eines Lehrstuhls für Zeitgeschichte mündeten.
Die Arbeit führt verschiedene Ansätze zusammen: individualbiographische und gruppenbiographische Erhebungen zum Personenverband, Beschreibung der institutionellen Einbindung in die universitäre und außeruniversitäre Wissenschaftsorganisation und die Herausarbeitung von Hauptlinien der thematischen und methodischen Entwicklung. Sie fragt nach gelungenen und gescheiterten Prozessen der Institutionalisierung von neuen Themenbereichen und Methoden und untersucht werden, welche inneruniversitären und außeruniversitären, innerwissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Kräfte auf diese Prozesse einwirkten. Dabei werden nicht nur die Ordinarien behandelt, sondern wird der gesamte Personenverband der Dozenten einbezogen: die Ordinarien, Extraordinarien, Privatdozenten und Assistenten. Grundsätzlich stellt Daniels fest, dass die Ränder interessanter als die Kernbereiche (Lehrstühle für Alte, Mittlere und Neuere Geschichte) des Faches sind, weil hier einerseits oft der Strukturwandel begann, auf der anderen Seite Nachwuchskräfte dort ihre Karrierechancen witterten.
Der Untersuchungszeitraum setzt 1918 mit dem Untergang des Deutschen Kaiserreichs und des Königreichs Württemberg ein. Der Endpunkt 1964 erscheint dem Rezensenten etwas willkürlich gesetzt, hängt aber laut Verfasser damit zusammen, dass zu diesem Zeitpunkt die Tübinger Geschichtswissenschaft weitgehend die Gestalt erhalten hatte, die sie bis in die Gegenwart prägt. In diesen fast fünfzig Jahren durchlebten die Tübinger Historiker vier verschiedene politische Systeme. Interessant ist, dass beim Personal eine hohe Stabilität durch die langen Dienstzeiten festzustellen ist und es bei keinem der Systemwechsel zu einem umfassenden Austausch des Personals kam.
In der Weimarer Zeit wurde von der jungen Republik kein Elitenaustausch durchgeführt, die politische und konfessionelle Homogenität des nationalkonservativen protestantischen Lehrkörpers erleichterte die spätere Gleichschaltung. Nach 1933 kam es daher zu keinen Entlassungswellen, anderseits konnte auch nicht der Anspruch erreicht werden, die Zusammensetzung der Hochschullehrer zugunsten linientreuer Nationalsozialisten zu verändern. Statt dessen blieben sie mehrheitlich nationalkonservativ.
Der Zweite Weltkrieg war ein tiefer Einschnitt im Universitätsleben durch den Kriegsdienst vieler Professoren, Privatdozenten und Studenten. Der Krieg erschwerte gleichsam einen systematischen Umbau der Universität im Sinne des nationalsozialistischen Regimes und geplante Großprojekte, wie am Beispiel der Auslandskunde oder am Scheitern eines landesgeschichtlichen Instituts gezeigt wird. Nach 1945 kam es zwar zu einer großen Entlassungswelle, die meisten Hochschullehrer wurden jedoch bis Ende der 1950er Jahre wieder eingegliedert. Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre führten dann Wirtschaftswunder und Westbindung zu einem Hochschulausbau ungekannten Ausmaßes zusammen mit einer intellektuellen Öffnung der Geschichtswissenschaft nach Westeuropa und Nordamerika.
Daniels versteht die institutionellen Prozesse zwischen Staat und Universität als Kräftespiel, in dem sich Bewegungen gegenseitig verstärken oder abschwächen: So profitierte etwa die Auslandskunde vom Gleichklang Uhligs mit der gesteigerten politischen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für das Grenz- und Auslanddeutschtum in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Karl Georg Kuhn konnte aus seinem Spezialwissen über jüdisches Schrifttum im Rahmen der antisemitischen Staatspolitik nach 1933 profitieren. Wichtige Bedingung für Einrichtung der Zeitgeschichte Anfang der 1960er war die Einigkeit von Politik und Neuzeithistorikern über die große Bedeutung des Teilfaches für die volkspädagogische Selbstvergewisserung der jungen Bundesrepublik. Gegenbeispiele sind etwa Adalbert Wahl, der in Lehre und Forschung demonstrativ am Kaiserreich orientiert blieb und dies gegen Weimar ausspielte oder der Nationalsozialist Heinrich Dannenbauer, der dem Regime gegenüber trotzdem an der Wissenschaftsfreiheit festhielt oder die Bemühungen der Historiker, die viel Energie darauf verwandten, die Wirkungen politischer Säuberungen abzufangen.
Daniels macht zwei Hauptformen von Institutionalisierungsprozessen aus: 1. Jene, die ohne langen, d. h. maximal zehnjährigen Vorlauf ermöglicht werden, weil sie Teil einer staatspolitischen Agenda sind oder sich einer solchen aus strategischen Gründen anschließen. Dies häufte sich nach 1945 im Zuge des Hochschulausbaus. 2. Lange Traditionslinien, die dann in politisch günstigem Umfeld kurzfristig oder mittelfristig gefördert werden.
Der gemeinsame Nenner von beiden liegt in der politischen Förderung, was zeigt, dass es sich bei der Entwicklung der Geschichtswissenschaft um keinen autonomen inneruniversitären Vorgang handelt, sondern immer eine politische Komponente bestand, die am Ende auch Ausschlag gebend war.
Die drei Ordinarien für alte, mittlere und neuere Geschichte waren dagegen sehr stabil und änderten sich kaum im Untersuchungszeitraum. Betroffen waren diese vor allem durch den Wandel in Lehre und Forschung von der Ordinarienuniversität zu Massenuniversität. In diesem Kontext sind neugegründete Parallelprofessuren oder Entlastungsprofessuren sowie die Gründung neuer Professuren schnell fester Bestandteil des Fachs geworden. Ein letzter bedeutsamer Faktor hierfür war die Konkurrenz mit anderen Universitäten hinsichtlich der Breite von Lehre und Forschung und materieller Ausstattung.
Alles in allem handelt es sicher hier um einen sehr guten Beitrag zur Universitätsgeschichte, der es vermag, die bestimmenden Faktoren für Institutionalisierungsprozesse an Universitäten herauszuarbeiten. Zu bemängeln sind nur Kleinigkeiten. So wäre es gerade angesichts der Längsschnittskonzeption hilfreich gewesen, den Lesern einige Übersichten über die Ordinarien und Lehrkräfte in den Untersuchungszeiträumen an die Hand zu geben.
Gießen Sascha Weber