Burgdorf, Wolfgang, Protokonstitutionalismus. Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519-1792 (= Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften 94). V&R, Göttingen 2015. 226 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der Beginn der formalen Verfassung von Staaten der Erde wird in der Regel mit der Virginia Bill of Rights des Jahres 1776 verbunden. Dementsprechend ist die weltweit in unterschiedlicher Einzelform erkennbare politische Gestaltung, bei der das Oberhaupt des Staates durch eine (formelle, anfangs oktroyierte, später zunehmend von dem Volk bestimmte) Verfassung oder Konstitution beschränkt ist, in erster Linie mit der folgenden Zeit verbunden. Das schließt allerdings eine ältere Vorstufe eines Protokonstitutionalismus ebenso wenig aus wie einzelne ältere „Verfassungsgrundgesetze“ von der Art der Magna Charta libertatum Englands oder der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV.

 

Der in Salzkotten in Ostwestfalen 1961 geborene, nach dem Studium von Geschichte, Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie und Pädagogik in Bochum ausgebildete, 1995 bei Winfried Schulze in Bochum über Reichskonstitution  und Nation in Schriften zwischen 1648 und 1806 promovierte, seit 1996 in München tätige und dort 2005 habilitierte und 2013 zum außerplanmäßigen Professor ernannte Verfasser des vorliegenden, wichtigen Bandes hat vor kurzem eine grundlegende Edition der 17 Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Kaiser zwischen 1519 und 1792 vorgelegt. Dem fügt er nunmehr als Ergebnis der dabei gewonnenen Einsichten eine inhaltliche Durcharbeitung an. Sie gliedert sich nach einer Einleitung in 17 Sachabschnitte und eine Zusammenfassung.

 

Dabei behandelt der Verfasser nacheinander die Bedeutung der Wahlkapitulationen, den Begriff, den Forschungsstand, die Originale, die Überlieferung, die Visualisierung der konstitutionellen Ordnung des Reiches, die kurfürstlichen Kollegialschreiben, den Weg zum Thron, den Schritt vom König zum Kaiser, die im Laufe der Zeit erfolgenden Veränderungen in den Wahlkapitulationen, die Grenzen des Reiches, die Sprachen des Reiches, die politische Theologie des Reiches, die Zeit des Reiches, die Verfassungsdiskussion über Idealwahlkapitulationen und den Protokonstitutionalismus. Dementsprechend untersucht er die Gewaltenverteilung, die Souveränität, das Budgetrecht, die Reichstagsarmee, die Verfassungsrevision, Öffentlichkeit und Transparenz, Veröffentlichungen, Freiheit der Kommerzien, Kontrasignation und den Verfassungseid. Als grundrechtliche Gewährleistungen kann er in den Wahlkapitulationen ermitteln das jus emigrandi und eine begrenzte Religionsfreiheit, das Verbot von Religionsprozessen, den ordentlichen Gerichtsstand, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Indigenat, das Armenrecht, das Briefgeheimnis und das Postgeheimnis sowie die Meinungsfreiheit.

 

Im Ergebnis hält er aber auch selbst fest, dass dies alles schön klingt, aber nicht immer der Wirklichkeit entsprach und mit dem Ende des Heiligen römischen Reiches der Vergangenheit angehörte. Wenn auch viele Prinzipien der Abgrenzung und des Zusammenwirkens der Institutionen und Organe des Reiches später zu Strukturprinzipien konstitutioneller Staaten wurden und rechtliche Gewährleistungen in Grundrechtskatalogen wiederkehrten, fehlte dieser materiellen Verfassung aber noch das Moment der Partizipation und Repräsentation des Volkes, so dass sie keine (moderne) Verfassung war., sondern nur ein bislang unterschätzter Schritt auf dem Wege deutscher Rechtsstaatlichkeit vor dem Konstitutionalismus, für dessen umsichtige und sorgfältige Beschreibung aus den Quellen heraus dem Verfasser sehr zu danken ist.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler