Bierschenk, Lars, Die zweite Instanz im deutschen und französischen Zivilverfahren. Konzeptionelle Unterschiede und wechselseitige Schlussfolgerungen (= Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 349). Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XXVII, 264 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das am 1. 1. 2002 in Kraft getretene Zivilprozessreformgesetz brachte als „‚grundlegende Strukturreform‘“ einen „funktionellen Wandel der Berufung von einer zweiten Tatsacheninstanz zu einer Instanz der Fehlerkontrolle“ (S. 1). Dieses Reformmodell ist nach Hirtz (NJW 2014, 2529, 2531) als gescheitert anzusehen. Nach Gehrlein (NJW 2014, 3393) ist durch „‚die Handhabung und Auslegung des reformierten Berufungsrechts … der frühere Rechtszustand weitgehend beibehalten‘“ worden (S. 1). Während nach deutschem Berufungsrecht das Vorbringen neuer Tatsachen nur mit Einschränkungen zulässig ist, stellt auch nach der Reform des französischen Appellationsrechts der nouveau appel weiterhin eine zweite Tatsacheninstanz dar entsprechend dem seit 1799 geltenden Prinzip des double degré de jurisdiction. Ziel der rechtsvergleichenden Untersuchungen Lars Bierschenks ist es, im Hinblick auf die „historische Entwicklung und wechselseitige Einflussnahme beider Systeme“ das deutsche Recht dahin zu untersuchen, „welche Maßnahmen de lege lata und de lege ferenda möglich und notwendig sind“, um das deutsche und französische Berufungsrecht zu verbessern (S. 3).
In den fünf Teilen seiner Untersuchungen befasst sich Bierschenk außer mit einem Überblick über die Grundlagen des deutschen und französischen Rechtsmittelrechts mit der Urteilslehre der beiden Verfahrensordnungen, mit der Berufung und dem appel im Detail, mit Klagen von verhältnismäßig geringem Wert (sog. small claims) und abschließend mit einer detaillierten Zusammenfassung der Ergebnisse in übergreifenden Thesen, die Bierschenk auch auf Französisch wiedergibt (S. 221ff.). Die Untersuchungen Bierschenks, die auch auf die historischen Grundlagen des französischen und deutschen Berufungsrechts eingehen, sind auch für den Rechtshistoriker von großem Interesse. Das Rechtsmittelsystem der Civilprozessordnung von 1877 beruht auf einer Analyse und teilweiser Übernahme des französischen Rechtsmittelrechts. Der vom Reichskanzler 1871 dem Bundesrat zugeleitete CPO-Entwurf des preußischen Justizministers Leonhardt hatte allerdings vorgesehen, die Berufung nur noch gegen die Urteile der Amtsgerichte zu gewähren, dagegen für die in erster Instanz erlassenen Endurteile der Landgerichte nur noch die Revision vorzusehen. Diese sollte nur darauf gestützt werden können, dass die „Entscheidung auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe“ (§ 460 des Entwurfs). Die CPO-Kommission des Bundesrates billigte diesen Vorschlag im November 1871 mit 6 gegen 5 Stimmen, nachdem Bayern gleichzeitig hatte durchsetzen können, dass die Revision auch auf eine „unrichtige Auslegung einer Urkunde“ sollte gestützt werden können (§ 479 des CPO-Entwurfs von 1872).
In seinem Votum für das preußische Staatsministerium stellte Leonhardt fest, dass die Frage der Beibehaltung oder der Beseitigung der Appellation nicht nur allein „für die ganze Struktur des Prozesses, sondern auch für die Organisation der Gerichte maßgebend“ sei (W. Schubert, Entstehung und Quellen der Civilprozeßordnung von 1877, 1987, S. 711). Werde die Appellation beibehalten, so werde die Beschränkung der ersten Instanz durch die Eventualmaxime geboten sein, wie es der hannoversche Zivilprozess von 1850 vorgesehen hatte. Leonhardt konnte sich mit seinen Vorschlägen im Bundesrat gegenüber den Mittelstaaten nicht mehr durchsetzen, so dass die Reichstagsvorlage zur Civilprozessordnung von 1874 wie auch die 1879 in Kraft getretene Civilprozessordnung in Übereinstimmung mit dem französischen Recht in § 491 vorsah, dass die Parteien neue Angriffsmittel und Verteidigungsmittel sowie Beweismittel grundsätzlich unbeschränkt sollten vorbringen können.
Seit dem Inkrafttreten der Civilprozessordnung hat der deutsche Gesetzgeber mit der Emminger-Novelle von 1924 und mit der Vereinfachungsnovelle von 1976 den Versuch unternommen, das Vorbringen neuer Angriffsmittel und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz grundsätzlich auszuschließen. Nachdem dies nicht gelungen war, verfolgte er das Ziel, die Berufung als „Fehlerkorrekturinstanz“ (S. 217) durchzusetzen, was dem Reformgeber bisher „nur mit Einschränkungen“ gelang (S. 218). Nach Bierschenk ist, sofern der Gesetzgeber weder die Einführung eines strikten Novenausschlusses noch die Rückkehr zu einer zweiten Tatsacheninstanz beabsichtige, eine „Aufwertung der deutschen Berufung nur auf formellem Weg zu erreichen“ (S. 221ff., Zitat S. 218). Das Ziel des Reformgebers sollte darin bestehen, die Berufungsgründe in der Rechtspraxis „stärker zu gewichten und damit eine frühzeitige Beschränkung des zweitinstanzlichen Prüfprogramms zu bewirken“. Für das französische Recht arbeitet Bierschenk heraus, dass die Strategie des französischen Reformgebers von 2009, das Appellationsverfahren durch Begrenzung des prozessualen Aufwands und des Verzögerungspotentials der Appellation zu straffen, durchaus Erfolg versprechend sei (S. 90ff., 218). Bierschenk weist auch darauf hin, dass der Wegfall der Singularzulassung der Anwaltschaft vor den Oberlandesgerichten als „unproblematisch“ zu bewerten sei und dass sich auch aus der Fusion von avocats und avoués keine nachteiligen Schlüsse ziehen ließen (S. 100ff., 219). Da der appel nach französischem Recht erst bei einem Streitwert von über 4000 Euro zulässig ist (im Gegensatz zur deutschen Berufung, die eine Beschwer von über 600 Euro vorsieht), ist nach französischem Recht der pourvoi en cassation zulässig, bei der es nur um die Vereinbarkeit der angefochtenen Entscheidung mit dem materiellen und formellen Recht geht (S. 200f., 201). Für das deutsche Recht besteht dagegen für die small claims eine Rechtsschutzlücke, die sich mit der Möglichkeit einer Zulassungsberufung schließen ließe. Für das französische Recht liegt es nach Bierschenk nahe, auf den aufwändigen pourvoi en cassation zu verzichten und eine Zulassungsberufung oder Annahmeberufung vorzusehen.
Das Werk enthält, wie die umfangreichen Thesen zeigen (S. 216-220), noch eine Fülle weiterer Vorschläge zur Verbesserung und Straffung des appel und der Berufung. Insgesamt hat Bierschenk mit seinem Werk das französische und deutsche zweitinstanzliche Zivilverfahren unter allen relevanten Gesichtspunkten umfassend erschlossen und mit der historischen Fundierung seiner Untersuchungen zugleich dem Prozessrechtshistoriker weiterführende Perspektiven für die Prozessrechtsgeschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet.
Kiel |
Werner Schubert |