Bargon, Vanessa, Die Strafrechtsnovelle vom 26. Februar 1876. Die erste Revision des Strafgesetzbuchs (= Beiträge zur Strafrechtswissenschaft Band 18). Lit, Berlin 2015. XII, 258 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem Werk Vanessa Bargons liegt erstmals eine Entstehungsgeschichte und detaillierte Normenanalyse der Strafrechtsnovelle von 1876 vor. Nach der Einleitung, die sich vor allem mit den Methoden und Fragestellungen der Untersuchung befasst, geht es im ersten Teil zunächst um den historischen Hintergrund (Strafgesetzbuch) von 1871 als Ausgangspunkt; politische und gesellschaftliche Lage am Anfang des Deutschen Reichs). Im zweiten Teil (Entstehungsgeschichte) behandelt Bargon zuerst die Entstehung der Reichstagsvorlage vom 23. 11. 1875 zu der Novelle (S. 19ff.). Der Anstoß zu der Novelle kam von Preußen mit einem Antrag auf Revision des StGB im Bundesrat am 31. 1. 1874. Der Bundesrat ersuchte daraufhin die Bundesregierungen, ihre Vorschläge zur Änderung des StGB dem Reichskanzler mitzuteilen. Die Stellungnahmen enthalten insgesamt 471 Änderungsvorschläge, die sich vornehmlich auf folgende Fragen konzentrieren: Antragsdelikte, Straflosigkeit bei Kindern von 12 Jahren, Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und Religion, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Verletzungsdelikte (S. 83ff.). Von Interesse wäre es gewesen, wenn Bargon die Änderungsvorschläge der größeren Bundesstaaten, insbesondere Sachsens, auch zusammenfassend gewürdigt hätte. Aufgrund der Äußerungen der Bundesregierungen stellte das Reichskanzleramt den Entwurf zur Strafrechtsnovelle auf, der am 28. 9. 1875 im Bundesrat eingebracht wurde. Dort beschäftigte sich zunächst der Justizausschuss des Bundesrates mit der Vorlage; am 17. 11.  1875 befasste sich das Plenum des Bundesrates mit den Vorschlägen des Justizausschusses und weiteren Anträgen. Nicht herangezogen hat Bargon eventuelle Berichte von Ausschussmitgliedern bzw. Teilnehmern der Plenarverhandlungen. Nach der Überblicksdarstellung geht Bargon auf die Vorschläge im Einzelnen ein (insbesondere zur Strafverfolgung von im Ausland begangenen Straftaten, zum Versuch, zu den Antragsdelikten und zur Verjährung; ferner zu zahlreichen Einzelfragen).

 

Ähnlich geht Bargon für die Verhandlungen im Reichstag vor. Nach einem Abschnitt über die Beratungen im Plenum (Überweisung einer Kommission, die jedoch ihre Vorschläge nicht schriftlich begründete; stattdessen mündlicher Bericht durch den Berichterstatter v. Schwarze; Zustimmung zur abgeänderten Vorlage am 18. 2. 1876). Die Bekanntmachung der Gesetzesvorlage erfolgte unter dem 26. 2. 1876 (S. 151). S. 108ff. erörtert Bargon die Spezialdebatte über die einzelnen Änderungsvorschläge. Einigen von der Reichsregierung als wichtig angesehenen Vorschläge folgte der Reichstag nicht (u. a. Änderung des § 44 [Versuch], des § 68 [Verjährung], zu den §§ 85, 110, 111 [Widerstand gegen die Staatsgewalt]).

 

Im dritten Teil der Untersuchungen: „Inhalt und Entwicklung“ (S. 155) wird zunächst der Inhalt der Novelle hinsichtlich wichtiger Änderungen beschrieben (S. 155ff.). Ein weiterer Abschnitt geht ein auf die Kritik an der Novelle und der wichtigsten Änderungen des Strafgesetzbuchs. Anschließend untersucht Bargon die Bedeutung und insbesondere die weitere Entwicklung der 1876 vorgenommenen Tatbestandsänderungen und neu eingefügten Bestimmungen der Novelle (S. 190ff.). In der „Zusammenfassung und Würdigung“ (S. 219ff.) stellt Bargon fest, dass der Gesetzgeber sein ursprüngliches Ziel, „ausschließlich Fehler des Gesetzbuches zu beheben, die in der praktischen Anwendung deutlich geworden waren und die Änderungen darauf zu beschränken“, nicht eingehalten habe. Einige Änderungen waren sog. Gelegenheitsgesetze (lex Duchesne § 49 a; Arnim-Paragraph, § 353 a). Des weiteren ist die Novelle von 1876 der Beginn einer Expansion des Strafrechts (Änderungen von 44 Tatbeständen; Aufnahme von 7 neuen Delikten), die Bargon im Einzelnen kennzeichnet (Vorverlegung der Strafbarkeit; neuer Tatbestand für die gefährliche Körperverletzung; Einschränkung der Antragsdelikte). Nicht zu übersehen ist der Einfluss der Politik insbesondere Bismarcks und Preußens auf die Novelle von 1876 (S. 239ff.), wobei es von Interesse sein würde, inwieweit der aus Hannover kommende preußische Justizminister Leonhardt hiermit immer einverstanden war. Wichtig ist auch der Abschnitt „Kontinuität/Tendenz“ (S. 241ff.), in dem Bargon die Abkehr vom liberalen Strafrecht seit der Novelle von 1876 kennzeichnet (u. a. am Beispiel der Versuchsstrafbarkeit, S. 245f.). Das Werk hätte an Farbe gewonnen, wenn Bargon einige der an der Reform beteiligten Juristen biografisch vorgestellt hätte. Die Spezialdebatte über die einzelnen Paragraphen hätte eine zusammenfassende Darstellung der in den Debatten und Beschlüssen sowie der parlamentarischen Tendenzen verdient. Insgesamt liegt mit dem Werk Vanessa Bargons eine gut lesbare Entstehungsgeschichte der einzelnen Bestimmungen der Strafrechtsnovelle von 1876 vor, die wichtige Aspekte der Strafrechtsgeschichte des Kaiserreichs erschließt.

 

Kiel

Werner Schubert