Kausen, Ernst, Die Sprachfamilien der Welt. Teil 1: Europa und Asien. Teil 2: Afrika – Indopazifik – Australien – Amerika. Buske, Hamburg 2013/2014. XXXV, 1052, XLIX, 1265 S., Tab., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Eine stilisierte Grafik, abgeleitet von Pieter Bruegels d. Ä. bekanntem Gemälde des „Großen Turmbau(s) zu Babel“ aus 1563, ziert die Frontdeckel der beiden voluminösen Bände und dient der Assoziation jener sprichwörtlichen babylonischen Sprachverwirrung, die, glaubt man der Genesis, einst als Strafe Gottes für die megalomane Hybris über die Menschen kam und seither die Interaktion zwischen den Völkern und Individuen unserer Welt nachhaltig behindert. Der Mythos wäre fürwahr eine probate Erklärung für die Existenz jener um die 6000 unterschiedlichen Sprachen, die man gegenwärtig auf unserem Erdball vermutet. Doch findige Köpfe vor allem aus der Disziplin der vergleichenden Sprachwissenschaften bemühen sich indes seit Jahrhunderten um rationalere Wege zur Beantwortung dieser Frage; durch lexikalische und morphematische Vergleiche und die systematische Ableitung von Lautgesetzen konnten sie mittlerweile weitreichende Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den meisten europäischen Sprachen offenlegen. Der Indogermanistik (oder Indoeuropäistik) geschuldet ist so unser Wissen über die mit über 3 Milliarden Sprechern und etwa 300 Sprachen (darunter 80 ausgestorbene) größte Sprachfamilie der Welt, zu der mit dem Spanischen und dem Englischen dank des Kolonialismus auch jene beiden „Weltsprachen“ zählen, die hinter Mandarin-Chinesisch auf dem Erdball über die größte Anzahl an Sprechern verfügen.
Arbeiten wie die beiden vorliegenden Bände ermutigen aber auch, aus der eurozentrischen Perspektive herauszutreten und ein Gespür zu entwickeln für die gewaltige Vielfalt, in der sich Sprache auf unserem Planeten realisiert. Ernst Kausen, Mathematiker, Informatiker und Sprachwissenschaftler, hat zu diesem Zweck eine beeindruckende Fülle an Material zusammengetragen, systematisiert und dem Interessierten in verständlicher Form aufbereitet. Seine globale Sprachenstatistik (I, S. 25ff.) verzeichnet, angeführt vom Indogermanischen, weltweit 25 Sprachfamilien mit mindestens einer Million Sprecher; 99,5% der Menschheit sprechen eine Sprache, die einer dieser 25 Sprachfamilien zuzurechnen ist, während der verbleibende Sprecheranteil von 0,5% sich auf etwa 165 weitere, kleinere genetische Einheiten aufteilt, deren Gefährdung auf der Hand liegt. „Zur Zeit stirbt etwa alle 10 Tage eine Sprache, jedes Jahr gehen durchschnittlich 35 Sprachen unter, und das mit steigender Tendenz. […] In weniger als 80 Jahren wird also die Hälfte der heutigen Sprachen verloren sein, eine Trendwende ist nicht zu erwarten“ (I, S. 37). Betrachte man die Verteilung der Spracheinheiten nach Stammkontinenten, zeige sich, dass der mit einem weltweiten Sprecheranteil von 80% führende eurasische Stammkontinent im Hinblick auf die Anzahl seiner Sprachen (rund 1000, das sind 17% aller Sprachen) nur eine bescheidene Position innehat; Afrika und der Indopazifik verfügten jeweils über die doppelte Anzahl an Sprachen. Die Sprachdiversität in den einzelnen Kontinenten unterscheide sich extrem: In Eurasien gering ausgeprägt (5 Mrd. Sprecher auf nur 12 Sprachfamilien und weitere 12 isolierte Sprachen), seien Neuguinea, Australien und Südamerika wiederum „Gebiete höchster Sprachdiversität“. „Die geographisch größte Dichte von Sprachen erreicht sicherlich Neuguinea mit über 1000 Sprachen auf etwa 800 Tsd. Quadratkilometern bei einer Gesamtbevölkerung von rund 10 Mio.“ (I, S. 33).
In Anbetracht dieser Rahmenbedingungen, speziell der natürlichen Tendenz zur Ökonomisierung und der Tatsache, dass sich die Mehrzahl der Sprachen auf kleinste Sprechereinheiten beschränkt (so haben die australischen Sprachen im Durchschnitt weniger als 300 Sprecher), können Werke wie das vorliegende Nützliches leisten. Indem sie auch auf seltene Sprachen und damit verbundene Forschungsdefizite hinweisen, liefern sie manchen Ansporn, etwa vergleichbar mit einer archäologischen Notgrabung Feldforschungen in den betreffenden Regionen durchzuführen und Sprachbestände aufzuzeichnen und zu sichern, bevor die letzten indigenen Sprecher und damit auch ihre Sprachen endgültig untergegangen sind. Die möglichen damit verbundenen Schwierigkeiten illustriert das Beispiel der Sprachen der Andamanen-Inseln im Indischen Ozean. Sie gehörten „zur ältesten Sprachschicht Südasiens“ und seien „nach heutiger Einschätzung mit keiner anderen Sprachgruppe verwandt“. Von den insgesamt bekannt gewordenen 13 andamanischen Sprachen hätten „Jarawa, Onge und Sentinel bisher überlebt, sie werden von zusammen noch etwa 500 Ureinwohnern gesprochen. Jarawa hat rund 250 Sprecher, Onge etwa 100; die Zahl der kaum kontaktierten Sentinel kann nur geschätzt werden […]; bei Zählversuchen der indischen Behörde im Jahr 2001 wurden nur 39 Sentinelesen identifiziert. Die drei bisher überlebenden Sprachen sind in ihrer Existenz höchst gefährdet; vielleicht hat Sentinel wegen seiner völligen Abgeschiedenheit noch die besten Chancen.“ Während allerdings über Jarawa und Onge gesicherte, hier im Band auch dargestellte Erkenntnisse zur genetischen Klassifikation, zur Phonologie, Nominalmorphologie, zu den Numeralia, zur Syntax und zur Verbalmorphologie vorliegen, gilt dies nicht für Sentinel: „Es gibt […] keine Kenntnisse über diese Sprache, da ein friedlicher Kontakt mit den Sentinelesen bisher nicht möglich war. Nicht einmal Wortlisten sind bisher erstellt worden. Versuche, sich mit den Sentinelesen mittels Jarawa- oder Onde-Vokabular zu verständigen, sind gescheitert“ (II, S. 478ff.). Naturkatastrophen wie der verheerende Tsunami von 2004 stellen eine zusätzliche latente Bedrohung für diese Kleinstkultur der Sentinelesen und ihre Sprache dar. Dass die indische Bürokratie es mittlerweile untersagt hat, sich der Insel zu nähern, und damit eine mögliche Kommunikation unterbindet, mag zwar dem Leben dieser Menschen zugutekommen, erweist der Erforschung ihrer Sprache aber keinen Dienst.
Betrachtet man das vorliegende Opus im Gesamten, so bilden derlei grundsätzliche Überlegungen natürlich nur einen Randaspekt im großen Kontext der Präsentation der Sprachfamilien und der ihnen zugeordneten Einzelsprachen. Die gleichbleibende Struktur der Darstellung, die jeweils auch die Forschungs- und Klassifikationsgeschichte sowie soziolinguistische Daten einschließt, wird im Vorwort des ersten Bandes eingehend erläutert. Was Ernst Kausens Werk weiter auszeichnet, ist vor allem dessen sachlich-systematisch gehaltene Anschaulichkeit in Gestalt zahlreicher Wortgleichungen, die es ermöglichen, Einblicke in grammatikalische Muster und Verwandtschaftsbeziehungen vieler der dargestellten Sprachen zu gewinnen. Dass alle grammatischen Skizzen, lexikalischen Tabellen und Klassifikationen in beiden Bänden (laut Verfasser finden sich dort allein mehr als 1.500 Tabellen) über jeweils eigene Verzeichnisse aufgeschlossen sind, erleichtert den jederzeitigen raschen Zugriff auf diese Informationen. Eine Übersicht über die phonetischen Symbole inklusive deutscher und fremdsprachlicher Musterbeispiele gestattet auch dem Laien das jederzeitige Nachvollziehen der Lautung exotischer Sprachen, während das Eingangskapitel „Sprachfamilien“ (I, S. 1ff.) eine erste Einführung in die sprachwissenschaftliche Terminologie bietet. Ausführlichere Orientierung in dieser Hinsicht vermitteln die für jeden Band separat erstellten Glossare linguistischer Fachbegriffe (I, S. 963ff. u. II, S. 1131ff.), wie auch jeder der beiden Bände über seine eigene Bibliographie, seinen eigenen Sach- und Personenindex und seinen eigenen Index der Sprachen und Sprachgruppen verfügt. Ganz- und doppelseitige Karten im kräftigen Vielfarbendruck (Bd. I: 7, Bd. II: 4) bedienen ergänzend die visuellen Bedürfnisse der Nutzer. Damit können, je nach Interessenslage, die Bände sowohl gemeinsam als auch einzeln beschafft und studiert werden, wobei die Sympathie des Rezensenten vorrangig dem Gesamtwerk gilt: Sein Erwerb versetzt den Interessierten nicht nur in die Lage, Informationen in ausgewogener Dichte und mit globalem Fokus stets zur Hand zu haben, sondern mag auch zu abenteuerlichen Ausflügen in abgelegene Sprachwelten animieren, die man bislang nicht einmal vom Hörensagen kannte.
Kapfenberg Werner Augustinovic