Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. Beck, München 2015. 493 S.
Der Ägyptologe Jan Assmann wendet sich in diesem Buch einem Thema zu, das nur noch am Rande mit seiner ersten Profession zu tun hat, dafür im Zentrum seiner zweiten, der Kulturwissenschaft steht. Denn ihm geht es weder um eine historische noch um eine theologische Auslegung des zweiten Buches des Pentateuch, das der Studie ihren Titel gab, sondern um eine kulturwissenschaftliche. Das heißt auch, Wirkung und Rezeption der Geschichte zu untersuchen, doch vor allem Grundideen und Bedeutung der erzählten Ereignisse offenzulegen. Durch diesen Ansatz ist die Untersuchung am wenigsten ein Beitrag zur altägyptischen Kultur, schon mehr zur Kultur des alten Israel, aber nicht weniger auch einer zu der des Christentums. In der in diesem Sinne bedeutungsgeschichtlichen Auslegung besteht der Anspruch des Autors und sie ist zugleich seine Rechtfertigung dafür, sich erneut dieser schon so oft kommentierten, interpretierten und in allen medialen Formen nacherzählten Geschichte zuzuwenden.
Assmann reflektiert seine Methode der „Resonanz“ kaum, so dass sie sich nur nachträglich aus seinem Vorgehen erschließt. Dabei wird deutlich, dass es ihm eben darum geht, das offen zu legen, was aus der Exodus-Erzählung noch nach- und herüberklingt. Die theologische Ausdeutung kann er zwar nicht ganz umgehen, doch ist sie nicht das vorrangige Anliegen. Auf philologische und historisch-kritische Methoden lässt er sich erst gar nicht ein. Darin liegt eine gewisse Naivität, da er so den sicherlich kompilierten und redigierten Text als ein in sich stimmiges Ganzes, in dem alle Aussagen gleichen Wert haben, nehmen muss. Das ist doch zunächst einmal erstaunlich für eine Geschichte, die Ereignisse, wenn sie denn einen historischen Kern haben, des 12. Jahrhunderts v. Chr. berichtet und über 600 Jahre später aus verschiedenen Quellen aufgezeichnet wurde, um für die aus der „babylonischen Gefangenschaft“ zurückkehrenden Juden eine Gründungsmythos zu stiften, der ihnen helfen sollte, sowohl ihre Identität zu wahren als auch den Verlust von Eigenständigkeit und Königsherrschaft zu kompensieren.
Assmann rechtfertigt dieses für einen Wissenschaftler befremdliche Vorgehen durch die Einführung der kulturwissenschaftlichen Figur des „Performativen“. Performativ seien Texte, die durch das, was sie darstellen, Wirklichkeit herstellen. Sie seien so lange wirklich, wie sie wirken. An der Exodus- Erzählung sei also in dieser Perspektive nicht wichtig, ob und welche vergangene Wirklichkeit sie beschreibe, sondern dass sie bis heute wirke.
Der Hauptteil des Buches besteht in einer chronologisch fortschreitenden Interpretation der Exodus-Geschichte mit Hilfe der beschriebenen Methode von der Unterdrückung der Israeliten in Ägypten bis zum Tod Moses noch ehe das Gelobte Land erreicht wird. Das ist aufgrund der profunden Kenntnisse des Autors der ägyptischen und jüdischen Überlieferung, seiner umfassenden Bildung und vor allem durch die Konzentration auf die Bedeutung des Geschehens eine durchgehende Bereicherung für den Leser, auch wenn die allzu ausführliche Ausbreitung von Bekanntem und manche gedanklichen Wiederholungen stören.
Assmann setzt ein mit der Schilderung der Unterdrückung der Nachfahren der nach Ägypten eingewanderten „Jakobs-Sippe“. Der niemals namentlich genannte Pharao zieht sie zu Zwangsarbeit heran und befiehlt, die männlichen Erstgeborenen zu töten, da sich die Ägypter durch die außergewöhnliche Zunahme der Israeliten bedroht fühlten. Unbefriedigend ist, dass mit keinem Wort darauf eingegangen wird, wann und warum die Juden einwanderten und wer zurückgeblieben ist. Noch wichtiger aber wäre für alles, was folgt, gewesen, auch auf deren religiöse Praxis einzugehen. Denn unter anderem vor diesem Hintergrund wird das Außergewöhnliche des kommenden Geschehens deutlich. Die mit der Geburt Moses, seiner Aussetzung, um den Tötungsbefehl des Pharao zu umgehen, und seiner Erziehung durch eine ägyptische Prinzessin aufgeworfene Kontroverse über seine jüdische oder ägyptische Herkunft wird kaum gestreift. Damit wird nicht nur eine wissenschaftliche Debatte umschifft, sondern auch eine Chance vertan, das kommende Auftreten von Moses einleuchtender zu erklären. Denn wie ist es möglich, dass der Führer eines unterjochten Volkes fortgesetzt selbstbewusst und fordernd einem Pharao gegenübertritt, der noch kurz zuvor dessen Dezimierung zum Programm erhoben hatte?
Der Totschlag eines Aufsehers durch Mose und dessen anschließende Flucht nach Midian, wo er die Tochter des dortigen Priesters heiratet, mit der er einen Sohn hat, wird übergangen. Warum Assmann das nicht wichtig erscheint und er sofort zur Offenbarung Gottes und zur Berufung Moses übergeht, wird nicht begründet. Wenn sich Gott Mose als Jahwe, der Gott seiner Väter, offenbart, dann ist das doch wohl auch ein Indiz dafür, dass die von ihm mit diesen geschlossenen Bünde in Ägypten in Vergessenheit geraten waren.
Von den ägyptischen Plagen wird nur die letzte vertieft. Hat doch erst der Tod der Erstgeborenen, „geradezu eine Obsession in der biblischen und phönizisch-punischen Vorstellungswelt“, den Pharao dazu bewogen, der Forderung Moses nachzugeben, sein Volk ziehen zu lassen. Das von Jahwe gebotene Passa-Mahl am Abend vor dem Auszug wird zu einem zentralen Element jüdischer Erinnerungskultur und verweist sowohl auf Jesu letztes Abendmahl wie durch die Assoziationskette Lamm, Erstgeborener und Befreiung auf dessen Erlösungstat. In der Festsetzung von Tag und Monat des Auszuges als Jahresbeginn sieht Assmann einen „Akt der Emanzipation“….„mit dem sich das entstehende Israel aus den Ordnungen seiner Umwelt und seiner eigenen Vergangenheit ausgliedert“.
Höhepunkt der Exodus-Erzählung und damit auch von Assmanns Buch ist aber der Bundesschluss zwischen Jahwe und dem Volk Israel am Sinai. Erst dadurch sei die ausgewanderte Masse zu einem Volk und gleich zu einem auserwählten geworden: das entscheidende Kriterium für die Identität Israels, die seine Sonderrolle in der (Alten) Welt begründete. Doch sei auch die Art, wie er geschlossen worden sei und sein Inhalt unvergleichlich. Dadurch dass Jahwe ihn direkt mit dem Volk Israel eingehe, sei er „geradezu direkt-demokratisch“ und mache Königtum wie Priesterschaft überflüssig. Und dadurch, dass dem Volk Israel für die Einhaltung der Gesetze und Gebote Jahwes das Gelobte Land versprochen wird, sei er ein Bund der Treue, der zugleich auch den Begriff der Sünde einschließe. Diese werde seitdem nämlich als Abweichung vom geoffenbarten Willen Jahwes verstanden.
Es ist deutlich zu erkennen, wie sich in der Auseinandersetzung mit der „Sinai-Perikope“ der Kulturhistoriker Assmann von Wertvorstellungen der Gegenwart leiten lässt. Zum einen vermeidet er ängstlich, die Provokation zu vertiefen, die in der Idee des auserwählten Volkes liegt. Zum anderen will er den in der Bundeserzählung endgültig begründeten Monotheismus, der doch nun wirklich das weltgeschichtlich Folgenreichste war, nicht überbetonen. Immer wieder unterstreicht er, dass hier ein „Monotheismus der Treue“ in die Geschichte eingetreten sei, dem es auf die Bundestreue ankomme und der nicht verkenne, dass es auch andere Götter gebe. Beide Hinweise können aber nicht in dem Maße den Monopolanspruch Jahwes auf Verehrung relativieren, wie das ein Wissenschaftler gerne hätte, der dem Dialog der Religionen nicht im Wege stehen will. Wenig überzeugt, wenn vom Bund am Sinai der Bogen zum Gesellschaftsvertrag der Neuzeit geschlagen und im Nationalismus des 19. Jahrhundert eine Wiederbelebung der Idee des auserwählten Volkes gesehen wird. Nur oberflächlich betrachtet sind hier Gemeinsamkeiten vorhanden, in der Substanz hingegen zu viele Unterschiede.
Zum Abschluss wird der Komplex des Widerstands des Volkes sowohl gegen die Führerschaft Moses als auch die Zumutungen, welche die durch ihn erneuerte Jahwe-Religion mit sich brachte, untersucht. Erhellend ist, wenn diese Linie über die Propheten bis zur Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft ausgezogen wird. Denn so wird klar, dass es bis zu diesem Zeitpunkt, an dem wohl auch die Exodus-Geschichte ihre endgültige Fassung erhielt, dauerte, bis sich die Jahwe-Religion durchgesetzt hatte. Sie wurde zu der alles überragenden Kraft, die es dem Volk Israel ermöglichte, unter Fremdherrschaft, Vertreibung und Verfolgung seine Identität bis heute zu wahren.
Dass der Gründungsmythos des auserwählten Volkes keine Verherrlichung seiner Taten sei, sondern von Versagen, Sünde und Abfall durchzogen werde, wird luzide als die Abkehr von einer schuldbeladenen Vergangenheit als Voraussetzung für einen Neuanfang nach Babylon interpretiert. Und welch aktuelles Potential in einer Exodus Erzählung steckt, die als überzeitliche Parabel von Auszug aus Unterdrückung und Gewohnheit, verbunden mit Zweifel und Mühsal hin ins Gelobte Land der Freiheit verstanden wird, kommt treffend in dem Satz zum Ausdruck: „Dieser Anfang schien damals wie heute nur in Form einer elaborierten Erinnerungskultur zu bewältigen zu sein, die das Bewusstsein schuldhafter Vergangenheit festhält, um sich von ihr loszusagen.“
Eichstätt Karsten Ruppert