Wendepunkte der
Rechtswissenschaft. Aspekte des Rechts in der Moderne, hg. v. Werner Heun
u. Frank Schorkopf. Wallstein, Göttingen 2014. 363 S. [Hans-Michael
Empell]
Wie sich dem Vorwort
der Herausgeber (S. 7f.) entnehmen lässt, ist der Band aus einer Vorlesungsreihe
entstanden, die im Wintersemester 2012/2013 zur Feier des 275-jährigen
Bestehens der Georg-August-Universität Göttingen veranstaltet wurde. Die Autoren
sind Mitglieder der Juristischen Fakultät und Professoren anderer Fakultäten,
deren akademischer Werdegang mit Göttingen verbunden ist. Im Vorwort wird
festgestellt: „Es geht um den historischen Beitrag der Göttinger
Rechtswissenschaft zum allgemeinen Rechtsdenken in der Moderne“ (S. 7).
Einzelne herausragende Gelehrte hätten „Paradigmenwechsel“ (S. 7) ausgelöst;
ihr Werk bezeichne „Wendepunkte der Rechtswissenschaft“, wie es im Titel heißt.
Der Band umfasst zwölf, aus den Vorträgen hervorgegangene Aufsätze.
Das Thema des Beitrags
von Werner Heun ist: Die Entdeckung der Rechtsvergleichung (S. 9ff.) Rechtsvergleichende
Untersuchungen wurden danach erst notwendig, als das auf dem römischen Recht
beruhende, europäische ius commune
seine Geltung verloren hatte, weil es durch partikulare Zivilrechtskodifikationen
ersetzt worden war, die eine Vielzahl unterschiedlicher, nationaler Rechte
erzeugten. Nach einer Darstellung der um 1800 einsetzenden „Vorgeschichte der
Rechtsvergleichung“ (S. 10ff.) wendet sich der Autor der „Neubegründung der
Rechtsvergleichung in der Weimarer Republik“ zu (S. 18ff.) und geht dabei besonders
auf Ernst Rabel ein, der von 1911 bis 1916 als Hochschullehrer in
Göttingen tätig war. Der Autor bezeichnet ihn als den „Begründer dieser neuen
wissenschaftlich und rechtspraktisch ausgerichteten Rechtsvergleichung“ (S. 19).
Außer Rabel wird Julius Hatschek behandelt, der von 1909 bis 1926 in
Göttingen wirkte. Abschließend widmet sich Heun der „Aktualität und
Rechtsprechungspraxis der Rechtsvergleichung“ (S. 25ff.), wobei er betont, dass
die Rechtsvergleichung zunehmend in die Rechtsprechung sowohl europäischer als
auch innerstaatlicher Gerichte eingeht.
Eva Schumanns
Beitrag trägt den Titel: Auf der Suche nach einem Deutschen Privatrecht.
Göttinger Beiträge zur Ausbildung einer neuen Wissenschaft (S. 34ff.). Dabei
geht es um den Zweig der deutschen Privatrechtswissenschaft, der seit Beginn
des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (das heißt: bis zum
In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. 1. 1900) sämtliche in
Deutschland geltenden privatrechtlichen Normen, die sich nicht aus dem
römisch-kanonischen ius commune
herleiten ließen, zum Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung gemacht hat.
Der eigentliche Begründer entsprechender Bestrebungen war der in Halle tätige Christian
Thomasius (1655-1728). Als selbständiges Fach im Lehrkanon konnte sich das
Deutsche Privatrecht jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
etablieren, in Göttingen durch Johann Stephan Pütter (1725-1807) und Justus
Friedrich Runde (1741-1807). Die Autorin behandelt ausführlich die
Schwierigkeit, aus den zahllosen partikularen Rechten ein einheitliches
deutsches Privatrecht abzuleiten.
Der Aufsatz von Martin
Avenarius steht unter dem Titel: Erkenntnis- und Inspirationsquellen der
modernen Wissenschaft vom römischen Zivilprozess. Bethmann-Hollwegs Beitrag zu
einer rechtswissenschaftlichen Wende (S. 83ff.). Den Ausgangspunkt bildet die von
Savigny geförderte Mitarbeit des jungen Moritz August von Bethmann-Hollweg an
der Erschließung des von Niebuhr im Jahre 1816 in Verona entdeckten Exemplars
der Institutionen des Gaius, eines Werkes der hochklassischen Jurisprudenz, das
zuvor nur aus dem Corpus Iuris
Justinians, genauer: aus den Institutionen und den Digesten, fragmentarisch bekannt
war. Bethmann-Hollweg wandte sich besonders der römischen Gerichtsverfassung
und dem römischen Prozessrecht zu, die durch den Gaius-Fund neu rekonstruiert
werden konnten. Der Autor betont die auch heute noch maßgebliche Bedeutung der
Werke Bethmann-Hollwegs; dieser habe sich – noch in einer Zeit der Geltung des
gemeinen Rechts – darauf konzentriert, die historische Entwicklung des
römischen Rechts zu erforschen, was der Historisierung der Wissenschaft vom
römischen Recht, wie sie heute maßgeblich sei, entgegen komme.
Martin Ahrens
behandelt in seinem Beitrag: Von Hannover nach Berlin – Wegemarken der
Prozessrechtsentwicklung (S. 119ff.) die Vorgeschichte der Zivilprozessordnung.
Sie beginnt mit der Dreiteilung des Zivilprozessrechts in Deutschland am Anfang
des 19. Jahrhunderts (gemeinrechtlicher Prozess, preußisches und französisches
Verfahren) und führt zur Civilprozessordnung für das Deutsche Reich vom 30. 1. 1877.
Eine wichtige Zwischenstation bildet die Hannoversche bürgerliche
Prozessordnung (8. 11. 1850). An der Ausarbeitung sowohl der Hannoverschen
Prozessordnung als auch der Civilprozessordnung war Georg Adolph Wilhelm
Leonhardt maßgeblich beteiligt, zunächst Göttinger Student, später
hannoverscher sowie preußischer Justizminister.
Der Aufsatz von Alexander
Bruns trägt den Titel: Die Privatversicherung zwischen Gefahrengemeinschaft
und Individualvertrag (S. 144ff.). Der Verfasser zeichnet die Entwicklung des
Rechts der Privatversicherung vom antiken griechischen und römischen Recht über
das Mittelalter und den Beginn der Neuzeit zum „Kodifikationszeitalter“ (19.
Jahrhundert) und schließlich bis in die Gegenwart nach. Während der Göttinger
Rechtsgelehrte und „Vater des modernen Privatversicherungsrechts“ (S. 144), Victor
Ehrenberg, der von 1888 bis 1911 einen Lehrstuhl innehatte, das
Versicherungsrecht noch rein individualrechtlich definierte, führte die
Entwicklung in der Folgezeit dazu, das kollektive Element stärker zu betonen und
die Privatversicherung als „Gefahrengemeinschaft“ zu verstehen.
Rüdiger Krause
zeichnet in seinem Beitrag mit dem Titel: Die Vergrundrechtlichung des
Arbeitsverhältnisses (S. 175ff.) die Entwicklung in Rechtsprechung und Lehre zu
der Frage nach, welche Bedeutung den Grundrechten im Zivilrecht und insbesondere
im Arbeitsrecht zukommt. War in den ersten Jahren der Bundesrepublik
Deutschland noch umstritten, ob und in welchem Ausmaß die Grundrechte, die
primär als Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat gedacht waren, auch in
zivilrechtlichen Beziehungen relevant sind, so brachte das Lüth-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts (1958), wonach die Grundrechte als Ausdruck einer
„objektiven Wertordnung“ auch auf das Zivilrecht „ausstrahlen“, die
entscheidende Wende. Der Autor nimmt einzelne grundrechtlich geschützte
Freiheitsrechte und ihre Bedeutung im Zivilrecht in den Blick. Er schließt sich
dem Urteil des Göttinger Rechtshistorikers und Zivilrechtlers Franz Wieacker an,
die Fortbildung des Arbeitsrechts sei einer der wenigen fraglosen Fortschritte
der Rechtskultur des 20. Jahrhunderts. Als ein wichtiges Element dieses
Fortschritts ist dem Autor zufolge die „Vergrundrechtlichung des
Arbeitsverhältnisses“ einzuschätzen.
Uwe Murmann
untersucht in seinem Beitrag: Die Liberalisierung des Strafrechts“ (S. 209ff.),
wie sich das Strafrecht nach der Ablösung des theozentrischen Weltbildes durch
den Rationalismus der Aufklärung gewandelt hat. Dabei geht er besonders auf die
Göttinger Juristenfakultät im 18. Jahrhundert ein und beschreibt sodann die Entwicklung
im 19. Jahrhundert. Abschließend stellt er fest, einen Wendepunkt stelle die
Verlagerung der Legitimation des Strafrechts von einem göttlichen Willen auf
eine menschliche Vernunft dar. Die weitere Entwicklung lasse sich jedoch nicht
nur als eine „Erfolgsgeschichte der Freiheit“ (S. 228) erzählen. Heute sei das
Strafrecht ein Mittel des steuernden und lenkenden Staates, der die Straftat
als Sicherheitsproblem verstehe, dem präventiv zu begegnen sei, insofern
vergleichbar dem Strafrecht des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert.
Der Beitrag Gunnar
Duttges trägt den Titel: Der reformierte Strafprozess: Entscheidende Wende
in die rationale Moderne? (S. 230ff.) Unter dem „reformierten Strafprozess“
versteht der Autor ein Strafverfahren, das durch die Trennung von Ankläger und
unabhängigem Richter sowie die Urteilsfindung in einem öffentlichen Verfahren
mit unmittelbarer Beweisaufnahme und mündlicher Verhandlung gekennzeichnet ist.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Gegensatz zwischen dem „reformierten
Strafprozess“, wie er im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, und dem
vorangegangenen „frühneuzeitlichen Willkürverfahren.“ Der Autor fragt, ob „eine
rechtsstaatlich-liberale Strafjustiz gleichsam für Gegenwart und Zukunft
gesichert sei“, und kommt zu dem Ergebnis, dies sei nicht der Fall. Auch in der
Gegenwart seien erhebliche Mängel auszumachen. Schon seit langem sei eine „Gesamtreform
überfällig“ (S. 244).
Eberhard Schmidt-Aßmann
behandelt die Herausbildung eines modernen Verwaltungsrechts (S. 247ff.). Den
Ausgangspunkt bildet das von Otto Mayer veröffentlichte Werk „Deutsches
Verwaltungsrecht“ (1895), das weit über seine Zeit hinaus maßgeblich gewesen
ist. Grundlegend war das Ziel, den „Polizeistaat“ durch einen „Rechtsstaat“
abzulösen, und das hieß in erster Linie: möglichste „Justizförmigkeit“ der
Verwaltung (S. 249). Nach 1945 setzte eine Entwicklung ein, in der das
„Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ (Fritz Werner)
verstanden wurde (S. 253ff.). Der Einzelne wurde nicht länger als Untertan,
sondern als Bürger und damit als Träger von Grundrechten verstanden, der
gerichtlich, insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht, geschützt wird.
Den Abschluss des Beitrages bilden Darlegungen zu einer verwaltungsrechtlichen
„Reformdiskussion“ (S. 260), die in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts
gerade auch vom Autor des Beitrags angestoßen wurde. Für besonders wichtig hält
Schmidt-Aßmann die Einbeziehung europäischer und überhaupt: internationaler
Verwaltungszusammenarbeit in die Verwaltungsrechtswissenschaft.
Peter-Tobias Stoll
behandelt das Völkerrecht; der Titel seines Beitrages lautet: Koordination,
Kooperation und Konstitutionalisierung im Völkerrecht (S. 273ff.). Die drei
Begriffe bezeichnen nicht nur Entwicklungsstufen des Völkerrechts, sondern auch
Schichten des geltenden Völkerrechts. Während das Völkerrecht ursprünglich dem
Zweck diente, die jeweils eigenen, „egoistischen“ Interessen der Staaten auf
der Basis der Gegenseitigkeit zu regeln, etwa in den Verträgen über die
diplomatischen und konsularischen Beziehungen, werden im geltenden Völkerrecht
auch gemeinsame Interessen aller Staaten anerkannt, zum Beispiel der Schutz der
Menschenrechte und der natürlichen Umwelt. Darüber hinaus geht der Autor auf
den in der Völkerrechtswissenschaft geprägten Begriff der
Konstitutionalisierung als einer angeblich dritten Stufe in der Entwicklung des
Völkerrechts ein, der auf der These beruht, dass die Völkerrechtsordnung nicht
mehr vollständig als das Handeln koordinierter oder kooperierender Staaten
begriffen werden kann. Stoll äußert sich skeptisch. Auch heute noch sei es
allein der Konsens der Staaten, durch den die völkerrechtlichen Normen
geschaffen werden.
Hans Michael Heinig
schreibt über Die ‚Göttinger’ Wissenschaft vom Staatskirchenrecht 1945-1969:
Von der Koordinationslehre zu freien Kirchen unter dem Grundgesetz (S. 297ff.).
Nach einer Darstellung der Vorgeschichte im Kaiserreich, der Weimarer Republik
im Nationalsozialismus und in den Jahre von 1945-1949 (S. 300ff.) widmet er
sich „Etappen der Rechtsprechung (insbesondere des Bundesverfassungsgerichts)“
(S. 310ff.), um anschließend auf herausragende Göttinger Gelehrte des Religionsverfassungsrechts
einzugehen: Rudolf Smend, Werner Weber und Konrad Hesse (S. 315ff.).
Der Aufsatz Frank
Schorkopfs trägt den Titel: Der Streit um die Entrechtlichung des Rechts.
Zur Methode des Rechts in der dynamischen Selbstveränderung der Gesellschaft
(S. 334ff.). Ausgehend von der These, methodologische Erörterungen im Recht
seien typischerweise Ausdruck von Unsicherheit (S. 334), beschreibt der
Verfasser die Diskussionen über juristische Methoden im Staatsrecht –
angefangen vom 19. Jahrhundert über die Weimarer Zeit (Rudolf Smend, Carl
Schmitt) bis zum „bundesdeutschen Verfassungsgerichtspositivismus“ (S. 349ff.).
Der Autor beendet seinen Beitrag mit Überlegungen zum „ungeklärten Methodenproblem
der EU“ (S. 353).
Der Band schließt mit
einem nützlichen Personen- und Stichwortverzeichnis (S. 359ff.) und einem
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (S. 365). Die Beiträge sind durchweg
informativ, gut geschrieben und leicht lesbar, wie es der ursprünglichen
Vortragsform entspricht. Sie enthalten zum Teil ausführliche Literaturhinweise.
Das Buch kann allen Juristen empfohlen werden, besonders aber solchen, die in
Göttingen studiert haben oder sich der Göttinger Universität aus anderen
Gründen verbunden fühlen.
Heidelberg Hans-Michael
Empell