Stolleis, Michael,
Nahes Unrecht, fernes Recht. Zur juristischen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert
(= Jena Center Vorträge und Kolloquien 16) Wallstein, Göttingen 2014. 173 S. Besprochen
von Gerhard Köbler.
Wir hätten nirgendwo auf dem Globus jemanden von seiner
Kenntnis und Kompetenz gefunden, schreibt Norbert Frei im Nachwort und
begründet damit den Bruch des Jena Centers mit der wohl in eigener Entscheidung
angenommenen Regel, nur ausländische Gastprofessoren anzusprechen. Deswegen
habe man Michael Stolleis aus Frankfurt am Main eingeladen, der dort seit 1974 über
seine Emeritierung im Jahre 2006 hinaus fast vier Jahrzehnte öffentliches Recht
und neuere Rechtsgeschichte lehrte und von 1992 bis 2009 als Direktor das Max-Planck-Instituts
für europäische Rechtsgeschichte leitete, wo er nach wie vor bienenfleißig
arbeite. Im Mittelpunkt der Gastprofessur am Jena Center stand danach die
Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechtes der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik, wobei den Auftakt der zugehörigen
Seminartage an der Jenaer Doktorandenschule die Frage bildete, wie man juristische
Zeitgeschichte überhaupt schreibt.
Gegliedert ist die daraus erwachsene neue Veröffentlichung
in sechs Abschnitte. Sie betreffen das Verhältnis von Rechtsstaat und
Unrechtsstaat im 20. Jahrhundert allgemein, richterliches Prüfungsrecht,
Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen 1918/1919
und 1933, das Verständnis des unverstehbaren Holocaust zwischen 1933 und 1945,
die Rechtsordnung und Justizpolitik in Deutschland zwischen 1945 und 1949, die
weiße Rose und ihre Richter sowie das öffentliche Recht in der
Rechtswissenschaft der Deutschen Demokratischen Republik als einem Staat mit
einem fragwürdigen Staatsrecht und einer Verwaltung ohne Verwaltungsrecht. Im
Kern geht es um die Ermittlung des Verhaltens rechtsstaatlicher Institutionen
in kriminellen und als solche eingeordneten politischen Systemen.
Angefügt an diese vielfältigen, grundsätzlichen, weiterführenden
Überlegungen ist ein Gespräch über Väter, Bildungswege und Zeitgenossenschaft,
in dem Michael Stolleis sich als eher schlechter Schüler und eigentlich
schüchterner Beobachter bestimmt, der außer durch seine Familie vor allem durch
Bertold Brecht, Erwin-Walter Palm, Sten Gagnér und Ludwig Wittgenstein geprägt
wurde, der über das Verhältnis von Moral und Politik bei Christian Garve zur
Frage nach der Bedeutung der Wendung Gemeinnutz geht vor Eigennutz fand, der
wegen seiner ungewöhnlichen venia für öffentliches Recht und Rechtsgeschichte
keine Chance auf einen zivilrechtlichen und nur eine geringe auf einen
öffentlichrechtlichen Lehrstuhl hatte und den als kleinen Professor in den
Jahren nach seiner Berufung bei der Spezialisierung auf Sozialrecht niemand
sonderlich beachtete. Schon die kurze Auswahlbibliographie am Ende des
interessanten Werkes vermittelt jedem Leser, was er daraus gemacht hat. Das
Umschlagbild zeigt ihn trotz zweier leicht geneigter senkrechter Stirnfalten
als aufrechten optimistischen Weisen, dem im unbeirrten Einsatz vor allem der
eigenen Fähigkeiten auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit sehr vieles mit
Kraft und Disziplin sehr gut gelungen ist.
Innsbruck Gerhard Köbler