Stollberg-Rilinger,
Barbara, Rituale (= Historische
Einführungen 16). Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013. 294 S. Besprochen von
Ulrich-Dieter Oppitz.
Die in Münster lehrende Historikerin, deren Studien zur symbolischen Kommunikation der Frühen Neuzeit ihr starke Beachtung verschafften, legt mit dem zu besprechenden Band ein Studienbuch vor, das einen ersten Überblick über die wichtigsten Theorien und Kontroversen der historischen Ritualforschung vermitteln will. Die Ritualforschung hat sich in der 'neuen Kulturgeschichte' als ein übergreifendes Forschungsgebiet entwickelt, das Handlungen, Symbolen und Ritualen eine Bedeutung zumessen will, die ihnen früher angeblich nicht ausreichend geschenkt worden ist. Der Verlag weist auf der Umschlagsbeschriftung auf die Allgegenwart der Rituale hin, denen eine 'elementare, sozial strukturbildende Funktion' zukomme und dazu geführt habe, dass immer mehr Phänomene durch die „ritualtheoretische Brille“ betrachtet worden seien. Demzufolge soll das Verständnis vergangener Zeiten erheblich verändert worden sein. Der „cultural turn“, in dessen Gefolge die Neubetrachtung Einzug halten soll, zeigt sich nicht zuletzt in der Bibliographie, die nur wenige Veröffentlichungen vor dem Jahre 1990 für zitierenswert befindet.
Nach der Beschreibung des Rituals im engeren Sinne als ‚eine menschliche Handlungsabfolge, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität‘ gekennzeichnet sei, geht die Autorin auf theoretische Konzepte und die Ritualforschung in der Geschichtswissenschaft ein. Interesse verdient ihr Hinweis, dass gerade in der Geschichtswissenschaft seit den 1980er-Jahren die Bedeutung der Rituale durch die stärkere interdisziplinäre Orientierung gefördert worden sei. Belege dafür erkennt sie in der Arbeit verschiedener Sonderforschungsbereiche der DFG. In diesem Zusammenhang sieht sie die Arbeiten zu Herrschafts- und Einsetzungsritualen, wie Eid, Huldigung und Einsetzung. Diese Gesichtspunkte werden an zentralen Themenfeldern wie Rituale im Lebens- und Jahreszyklus, Rituale des Opfers, der Herrschaft und der Begegnung sowie der Umkehrung beschrieben. In dem Unterkapitel der Rituale des ‚Rechts, des Gerichts und der Strafe‘ gibt die Autorin in einem kursorischen Durchlauf durch die Geschichte ohne zeitliche Differenzierung. Gerade an dem Beispiel des Griffs in siedendes Wasser (S. 152) ist zu sehen, wie die Autorin freizügig durch die Jahrhunderte der Rechtsgeschichte pendelt. Das fränkische Recht kannte zwar diese Erkenntnismöglichkeit (Kesselfang), jedoch hat schon das vierte Laterankonzil (1215) derartige Gottesurteile untersagt. Wenn auch vereinzelt spätere Verstöße gegen dieses Verbot vorkommen konnten, so ändert es nichts daran, dass grundsätzlich das Erkenntnisverfahren andere Wege nahm. Gerade hier ist es erstaunlich, dass die Autorin für ihre Art der Argumentation auf Belegstellen verzichtet. In das Bild des an alte Rituale gebundenen Rechts passt nicht die Erkenntnis, dass bereits früh im Mittelalter ein Übergang vom formellen Beweis zum materiellen Beweis erfolgte; dies galt nicht nur für das von der Kirche getragene Inquisitionsverfahren. Die in gründlichen Studien auf den Gebieten der Rechtsarchäologie, Rechtsikonographie und Rechtssymbolik gewonnenen Erkenntnisse werden von der Autorin in überaus verkürzender Weise, so sie überhaupt beachtet werden, dargestellt. Gerade das Verhältnis zwischen Kirchenbuße und Schandstrafe wird vereinfacht dargelegt; der wesentliche Punkt, dass von beiden Reaktionsmöglichkeiten auf eine Tat nur eine erfolgen durfte, ist nicht herausgearbeitet. Die Darstellung der Umstände einer öffentlichen Hinrichtung mit einer ‚militärisch flankierte(n) Prozesssion‘ (S. 157) ohne zeitliche Angabe lässt nicht erkennen, dass diese Schilderung meist nur auf Residenzstädte des 18. Jahrhunderts zugetroffen hat. Für eine mittelalterliche oder frühneuzeitliche Stadt barg jede öffentliche Hinrichtung vor zahlreichen Zuschauern erhebliche Sicherheitsrisiken. Zahllose abergläubische Taten bei Hinrichtungen waren ebenso zu erwarten wie Gewaltausbrüche gegen die Stadtobrigkeit oder das Gericht. Insoweit ist, unter Beachtung aller Verschiedenheiten, für die Begleitung durch die Stadtsoldaten die Bezeichnung als Ritual ebenso unpassend wie heute die Begleitung großer Fußballspiele durch ein massives Polizeiaufgebot. Will man in diesem Zusammenhang indes von einem Ritual sprechen, so zeigt der Begriff dann seine Konturlosigkeit. Weitere Kapitel befassen sich mit Kontroversen und systematischen Aspekten bis hin zu Perspektiven der historischen Ritualforschung. Mit der Beobachtung, dass die Ritualforschung deutlich mache, die geschriebene Ordnung mache nur einen kleinen Teil des Ganzen aus und nur der notwendige Blick auf die gelebte Ordnung führe zu einem angemessenen Verständnis des Ganzen, spricht die Autorin eine Selbstverständlichkeit aus, der wohl jeder historisch Forschende auch schon in der Vergangenheit der letzten 150 Jahre zugestimmt hat. Gleiches gilt für den Blick von dem Inhalt auf die Formen des Handelns. Überaus anspruchsvoll ist die Hoffnung der Autorin, durch zeit- und kulturübergreifende Vergleichsstudien bei Ritualen das Epochenschema Antike/Mittelalter/Neuzeit zu überwinden. Ihr Wunsch ist es, die Ritualforschung von einem separaten Teilgebiet innerhalb der Geschichtswissenschaft zu einem integralen Bestandteil der historischen Forschung zu etablieren.
Den vollen Wert des Werkes vermag nur der Leser zu erfahren, der über die Werbeseite des Campus-Verlages auf die ‚Ergänzungen zum Buch‘ stößt und den 23 Randhinweisen auf Quellen und Exkursen nachgeht. Sie füllen 63 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Sie ermöglichen der Autorin das Studienbuch weiterzuentwickeln, ohne dass der Leser erkennen kann, zu welcher Zeit welche Änderung eingefügt worden ist. Damit hat aus der Papieraera die Loseblattsammlung in die Geschichtswissenschaft Einzug gehalten. Welche Bedeutung die Autorin diesem Teil des Werkes widmet, zeigt sich am Umfange der Bibliographie. Sie ist bei den ‚Ergänzungen zum Buch‘ dreigeteilt in Quellen, Bibliographien/Internetforen und Forschungsliteratur. Umfasst der Bibliographieteil ‚Quellen‘ im Druck 31 Zitate, so sind es in den ‚Ergänzungen‘ 71 Zitate, in denen jedoch die Zitate des Druckbandes enthalten sind. Die Forschungsliteratur umfasst in den ‚Ergänzungen‘ 64 Seiten, im Druck lediglich 38 Seiten bei ungefähr übereinstimmender Druckanordnung. Die Bedeutung der Bibliographie zeigt sich in der erschlagenden Angabe bibliographischer Hinweise. Selten sind im Text bibliographische Hinweise in der Art gemacht, wie sie vor dem „cultural turn“ Standard waren: Autor, Titel, ggfs. Jahr, dann aber Seitenzahl, stattdessen ist weitgehend nur der Name des Autors und das Jahr der Publikation angeführt. Diese Zitierweise überlässt es dann dem Leser eines Studienbuches bei Lektüre des gesamten zitierten Werkes herauszufinden, welche Stelle die Autorin wohl im Sinne hatte, als sie diesen Verweis machte. Da nicht selten bei einem Verweis mehrere Werke bzw. Artikel angegeben sind, ist es leicht abzusehen, wievielen dieser Hinweise ein studierender Normalleser nachgehen wird. Die kundige Autorin hat indes alles Gesagte erschöpfend aus Quellen belegt. Beim Personen- und Sachregister ist wohl übersehen worden, dass Umlaute und Sonderzeichen die ritualisierte alphabetische Reihenfolge beeinflussen. Dadurch fand Lévi-Strauss seinen Platz nach Luther, Bürger nach Buße, Münkler nach Mythos und die Täufer stehen nach der doppelt aufgenommenen Taufe hinter Tylor. Stichproben bei den Einträgen zeigen unsystematische Auslassungen, oder warum fehlt z. B. der auf S. 221 erwähnte Otto I.?
Neu-Ulm Ulrich-Dieter
Oppitz