Schultz,
Helga, Europäischer Sozialismus – immer anders. Berliner
Wissenschaftsverlag, Berlin 2014. XI, 554 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Der Sozialismus ist die im 19. Jahrhundert theoretisch ausgebildete Gesellschaftslehre, die sich statt am individuellen Wohl des Einzelnen am Gesamtwohl der Allgemeinheit ausrichtet. Ermöglicht und zugleich verursacht wurde diese Vorstellung wohl durch den die allgemeine Freiheit bewirkenden Liberalismus. Mit ihm wurden einerseits die früheren ständischen Bindungen und Sicherungen beseitigt und andererseits neue wirtschaftliche Unterscheidungen und Unsicherheiten begründet, denen sich das vorliegende Werk an Hand ausgewählter Vertreter beschreibend und ergründend zuwendet.
Seine in Schwerin 1941 geborene Verfasserin studierte in Rostock ab 1960 Geschichte, Germanistik und Pädagogik und wurde nach Staatsexamen und Diplom 1965 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität. Nach ihrer Dissertation über die Krise der feudalen Ratsverfassung in Rostock zwischen 1748 und 1788 (1969) und etwa gleichzeitig mit ihrer Habilitation (Dissertation B) über das Landhandwerk in der Epoche des Übergangs (vom Feudalismus) zum Kapitalismus wurde sie 1977 Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik in Berlin für den Bereich Feudalismus und im Jahre 1986 zur Professorin ernannt. Nach Beendigung der Arbeit für die Akademie (1991) wurde sie 1993 für Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte an die Universität in Frankfurt an der Oder berufen, an der sie 2006 emeritiert wurde.
Gegliedert ist das auch für die Enkelgeneration gedachte, mit Porträtzeichnungen der eigenen Enkel ausgestattete Werk, das Geschichten von Gelehrten und Eiferern, Missionaren und Märtyrern, Rebellen und Tribunen sowie von Abtrünnigen und Unbeugsamen erzählen will, außer in eine Einleitung über Sozialisten und Konservative, Theorien und Ideologien, Sozialisten und Arbeiter sowie Bewegung und einen Epilog über Revolutionen, Nationalismus und Visionen in insgesamt zwölf Kapitel. Sie führen von Karl Kautsky (1854-1938) als Lehrer des Marxismus, über George Bernard Shaw (Faust und Mephisto des Sozialismus), Jean Jaurès (Internationalist unter der Trikolore), Józef Klemens Pilsudski (Unabhängigkeitskämpfer als Sozialist), Alexander Stambolijski (Staatsmann der Bauern in Bulgarien), Wladimir Medem (auf der jüdischen Gasse), Leo Trotzki (Luzifer der Revolution), Otto Bauer (der austromarxistische Hamlet), Andreu Nin (vom Anarchosyndikalismus zum Bolschewismus und zurück in Katalanien), Josip Broz Tito (der jugoslawische Weg) und Herbert Marcuse (Prophet der Jugendrevolte) bis zu Gunnar Myrdal und Alva Myrdal (1902-1986) als den Architekten des Volksheims in Schweden. Auch wenn der Sozialismus tatsächlich an den meisten Stellen seiner Umsetzung in die Wirklichkeit die mit ihm verbundenen Verheißungen nicht zu erfüllen vermochte, zeigen die vielfältigen eindringlichen Lebensbeschreibungen doch, dass sozialistische Ideen der gedanklichen Verbesserung an vielen Stellen dienstbar sein können, wenn Atlas die Welt nicht nur auf der rechten Schulter, sondern - wie meist dargestellt -, nur auf zwei Schultern tragen kann.
Innsbruck Gerhard Köbler