Retcliffe, John, Puebla oder Der Schatz der Ynkas, hg. v. Lorenz, Christoph F., Neudruck Olms, Hildesheim 2012. S.
Historische „Enthüllungen“ im Abenteuer-Roman des 19. Jahrhunderts sind zu entdecken. Die neue Edition von „Puebla oder Der Schatz der Ynkas“ durch C. F. Lorenz (Köln) ermöglicht verblüffende Einblicke in die Geschichte, Rechtsgeschichte und Verlagsgeschichte des vorvorigen Jahrhunderts.
Sir John Retcliffe nannte sich der 1815 in Schlesien geborene Schriftsteller Herrmann Ottokar Friedrich Goedsche (1815-1878). So bekannt, ja teilweise berüchtigt seine Vita und sein Werk im 19. Jahrhundert und darüber hinaus waren, so selten ist er zur ernsthaften tiefergehenden Betrachtung der Literaturwissenschaft, der Rechtsgeschichte und Zeitgeschichte geworden. Wie die antisemitischen erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“ als Ausdruck jüdischer Weltverschwörungs-Paranoia den verschlungenen Weg aus seinem wohl bekanntesten Roman „Biarritz“ (1868-1875) über Frankreich und Russland schließlich in die deutschen ariosophischen und politisch radikalisierten Anfänge völkischer und rechtsradikaler Gruppen und des Nationalsozialismus fanden, ist allerdings seit geraumer Zeit intensiv historisch zuverlässig erforscht worden. Den zeitgeschichtlichen Sensationsroman in Deutschland hat der Kölner Germanist Volker Neuhaus schon vor Jahren am Beispiel Goedsches mustergültig untersucht (Neuhaus, Volker, Der zeitgeschichtliche Sensationsroman in Deutschland 1855-1878, 1980.) Hinter dem englischen Pseudonym verbarg sich ein erzkonservativer Gegner des englischen Weltreichs und gleichermaßen engagierter Preuße. Zu seinen weithin wirksamen Prinzipien vor allem seit 1848 zählte es, in allen populären „beunruhigenden Phänomenen das Wirken geheimer Verschwörer zu erkennen“ (Neuhaus S. 10) und plakativ wie wirkungsvoll zu enthüllen. Auch als Journalist der Kreuzzeitung wusste er – in mancher Hinsicht durchaus modernen Entwicklungen gleichend – Fakten und Fiktionen auf Eindringlichste und Spannendste zu vermengen und in einem obskuren Weltbild zu vereinigen, das bei zeitgenössischen Lesern vertraute Gefühle, Vorurteile und politische Haltungen ansprach und verstärkte.
Die Romane sind heute selten im Original greifbar, spätere Ausgaben ohne Rücksicht auf rechtliche oder urheberrechtliche Bedenken im 20. Jahrhundert vielfach gekürzt und bearbeitet, das Gesamtwerk so umfangreich, dass Studien nicht leicht anzustellen sind, auch zu den Quellen der Romane.
Umso erfreulicher ist der Neudruck von Sir John Retcliffes Werk Puebla oder Der Schatz der Ynkas. Historisch-politischer Roman aus der Gegenwart, Liebrecht, Berlin 1865, 1866, 1868). Sie wurde herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christoph F. Lorenz (im dritten Band mit Nachwort S. 477-489). Er verweist auf die ursprüngliche Konzeption, welche sich auf zeitgenössische politische Ereignisse in Mexiko und Frankreich konzentrierte. In zweiten Band befinden wir uns im mexikanischen Guaymas, im dritten inmitten von Indianerkämpfen und anderen Abenteuern in einem fiktiven „Goldtal“. Lorenz zeigt auf interessante Weise die allmählichen Wandlungen des als historisch-politischen Roman angelegten Werkes zum „exotischen Abenteuerreißer“, den historischen Kontext und dessen veränderte, romanhafte Integration in Goedsches Ideologie der allezeit befürchteten Weltrevolution. Lorenz’ scharfsichtiger Blick in die Werkstatt Goedsches beschreibt die deutlichen Bezüge etwa zu Ferry. Karl May wiederum hat sich einige Zeit später in den Jahren ab 1882 bei Retcliffe bedient. Wer die Editionsgeschichte und ihre Nachwirkungen genau liest, wird darin auch einige Beispiele für den laxen Umgang der Autoren des 19. Jahrhunderts mit nationalem und internationalem Urheberrecht erkennen. Das betrifft zahlreiche Autoren, die zum Teil auch dem von Retcliffe erzeugtem Mythos aufsaßen, er sei ein englischer Schriftsteller. Neben anderen Quellen wird man im „Waldröschen“ von May bei Retcliffe als reicher Ideen-, Fabel- und Textanreger fündig. War Retcliffe ein fantasiereicher Schriftsteller, so waren manche seiner ideologisch anders oder flacher gestrickten Abschriftsteller weithin als Epigonen, die sich seiner Plots oder ganzer Dialoge freihändig bedienten, unterwegs.
Anfänge von „Puebla“ lassen sich schon in dem bekannten Roman Retcliffes „Nena Sahib“, der sich mit dem Indischen Aufstand gegen Großbritannien befasst, ausmachen. Der ist auch beiläufig bemerkt eine Fundgrube für die Verarbeitung von Welt-, Rechts- und Revolutionsgeschichte, welche in der englischen Geschichtsschreibung immer noch als Meuterei bewertet wird. Wie politisch so divergierende Publizisten wie Goedsche und Karl Marx mit Engels oftmals die gleichen zeitgenössischen Quellen mit gegensätzlichen Ergebnissen nutzten, ist ein bemerkenswerter Befund.
Retcliffe war nicht nur ein höchst erfolgreicher Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Er blieb im Buchmarkt lange sehr präsent. Der Verleger Euchar Schmid hat in den zwanziger Jahren eine von Lisa Barthel-Winkler neu, aber sehr fragwürdig bearbeitete Gesamtausgabe der Romane in einem gesonderten Retcliffe-Verlag erscheinen lassen. Die Bearbeiterin hat auch den „Puebla“-Roman auf ähnlich eingreifende Weise gegenüber dem Original verändert wie etwa „Nena Sahib“. Retcliffes Einfluss auf spätere Autoren ist bekannt. Karl May, aber auch eine Reihe anderer Autoren zählen dazu. Wie Goedsche, der als Journalist der konservativen „Kreuzzeitung“ durch entsprechende inländische und ausländische Informationen, durch ausgedehnte Reisen und durch zum Teil bis heute ungeklärte Informanten seine Romane mit dem Gütesiegel der angeblich authentischen internen und öffentlichen Politikbetrachtung und Geschichtsschreibung und mit der pikanten Schlüssellochperspektive in die geheimsten Gemächer der Reichslenker und Schlachtenlenker verknüpfte, lässt sich auch an dieser Edition eines klassischen, wenn auch mit dem notwendigen kritischen Blick zu lesenden Trilogie studieren. Auch Fontane kannte Retcliffe, sie arbeiteten zeitweilig in der gleichen Zeitung. Retcliffes Artikel, namentlich über Revolutionen und reale oder vermeintliche Revolutionäre und Gegner des preußischen Königtums trugen ihm sogar Klagen und Strafprozesse ein. Sie sind bislang von der Rechtsgeschichte kaum aufgearbeitet. Im Ergebnis konnte sich der Schriftsteller trotz aller skandalösen Journalistik und ungeachtet aller offensichtlich erfundener Anschuldigungen gegen Persönlichkeiten, die in den Bann seiner paranoischen Impressionen gerieten, stets auf königliche Huld und die Niederschlagung aller Strafgefahren verlassen. Biografie, Werk und Nachwirkung dieses Autors, der als fantasievoller Vielschreiber in seinem Jahrhundert so exemplarisch wie einzigartig ist, gehören jedenfalls, nicht nur wegen der Verarbeitung rechtlicher, historischer und privater Ereignisse zu den interessantesten, weil auch mit schriftstellerischer Raffinesse konstruierten wie perfidesten Geschichten der konservativen, politisch antidemokratischen bis antisemitischen Abenteuerliteratur im 19. Jahrhundert.
Freiburg Albrecht Götz von Olenhusen