Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus in Originaltexten, hg. v. Pauer-Studer, Herlinde/Fink, Julian (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2043). Suhrkamp, Berlin 2014. 563 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Wie konnte es geschehen, dass unter dem Einfluss des Nationalsozialismus namhafte deutsche Juristen sehenden Auges fundamentale Grundlagen der gewachsenen liberal-demokratischen Rechtskultur über Bord warfen und der Diktatur bereitwillig ihre legitimatorische Expertise anboten? Welchen Mechanismen ist es geschuldet, dass traditionelles Recht zu Unrecht, Unrecht aber zum Recht erklärt werden und mit allen Konsequenzen zum willfährigen Werkzeug politischer Herrschaft mutieren konnte?
Unter allen Antworten hat die wohl größte Beachtung Gustav Radbruchs 1946 in seiner Schrift „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ früh ventilierte These gefunden, wonach ein überzogen positivistisches, formalistisch geprägtes Rechtsdenken viele Juristen dazu verleitet habe, Rechtsnormen unhinterfragt und abgekoppelt vom sittlichen Maßstab der Gerechtigkeit zu vollziehen, sofern diese nur formaljuristisch korrekt zustande gekommen waren.
Die Herausgeber der vorliegenden Edition, die an der Universität Wien wirkende Philosophin und Leiterin des Projekts des Europäischen Forschungsrats „Verzerrungen des Normativen“, Herlinde Pauer-Studer, und der Wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Bayreuth, Julian Fink, machen nun anhand einer exemplarischen Auswahl rechtstheoretischer Texte mehr oder minder namhafter Juristen der NS-Zeit deutlich, dass Radbruchs Interpretation der Korrektur und der Ergänzung bedarf. Denn wie jener selbst, seien auch die Proponenten des NS-Rechts keine Vertreter, sondern im Gegenteil prononcierte Gegner des Rechtspositivismus gewesen; ihr Sündenfall liege daher keineswegs in einem übertriebenen Formalismus, sondern vielmehr in einer Demontage rechtsstaatlicher Standards durch eine auf die NS-Ideologie gestützte „Ethisierung“ des Rechts mit verheerenden Folgewirkungen: „Der Rechtspositivismus verteidigt […] die Separierung von Recht und Moral. Nach der Meinung jener Rechtspositivisten, die moralische Prinzipien für intersubjektiv begründbar halten, setzt die Moral externe Standards zur Bewertung von Rechtssystemen und Rechtsnormen. Die NS-Rechtstheoretiker setzen sich entschieden von einer solchen Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Ethik ab. Ihr Programm ist es, den Unterschied von Recht und Moral aufzuheben. Konkret bedeutet dies, ethische Konzepte wie ‚sittliche Pflicht‘, ‚Anständigkeit‘, ‚Ehre‘ und ‚Treue‘ auch als Rechtsbegriffe zu verstehen. […] Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen sollen ins Recht eingebunden und nicht nur im Falle von Ermessensentscheidungen der Richter rechtswirksam sein. […] Gerade die Durchdringung des Rechts mit ethischen Werten und Tugenden erlaube dann auch die Ausdehnung richterlicher Kompetenzen“ (S. 23).
In ihrer 120 Druckseiten umfassenden Einleitung charakterisiert Herlinde Pauer-Studer auf der Basis der in der Folge abgedruckten rechtstheoretischen Schriften gekonnt das auf der Koinzidenz von Recht und NS-Moral aufbauende Rechtssystem des Hitlerstaates. Das Recht erscheint als Schützer des Gemeinwesens, jener – wie behauptet - unter anderem aus dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs geborenen, rassisch fundierten Gemeinschaft aus Volk und Führung, in der sich der Gegensatz zwischen den Interessen der Volksgenossen und des Staates auflöse und individuelle Freiheitsrechte verzichtbar würden, der Volkswille werde in den Äußerungen des Führerwillens gleichsam manifest. Logische Konsequenzen daraus seien der Vorrang des öffentlichen Rechts vor dem Privatrecht und die Aufhebung der Gewaltenteilung: „‘Der totale Staat gelangt‘, wie [Ernst Rudolf] Huber betont, ‚notwendig dahin, alle Gewalt in der Hand des Führers zu vereinigen‘“, die „Kultivierung der Idee einer Totalität als Ausdruck einer umfassenden Weltanschauung in Form einer Art Wesensgesetz der völkischen Einheit soll diesen speziellen Status der politischen Führung akzentuieren und rechtfertigen“ (S. 49f.). Verfassungsrechtlich distanzieren sich die NS-Rechtstheoretiker folgerichtig von der liberalen Weimarer Verfassung, die mit der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz zwar de facto die rechtlichen Grundlagen für die NS-Herrschaft bereitstellte und die formell nie außer Kraft gesetzt wurde, aber nichtsdestotrotz von diesen für „tot“ (Huber) erklärt wurde: „So seien […] die Grundrechte der Weimarer Verfassung nicht nur vorübergehend suspendiert, sondern ‚als Verfassungsbestandteile endgültig beseitigt worden, weil sie mit den Grundsätzen der völkischen Weltanschauung nicht vereinbar sind‘“ (S. 56). Als Vorläufer des Führerstaates, in dem sich im Führer sowohl die Kompetenz der Gesetzgebung als auch jene der höchstrichterlichen Kontrolle vereinigen, galt hingegen das seit September 1930 etablierte, autoritäre Präsidialsystem.
Die Durchsetzung einer an den Grundsätzen der NS-Ideologie orientierten Rechtsordnung zeitigte ihre gravierendsten Folgen im Staatsbürgerrecht (Entrechtung der als jüdisch definierten Bevölkerungsteile), im Strafrecht (tätergebundenes Willensstrafrecht an Stelle des vom objektiven Tatbestand ausgehenden Erfolgsstrafrechts, Aufhebung des Rückwirkungs- und Analogieverbots, Zweispurigkeit von Strafe und Sicherungsmaßregeln), im Polizeirecht (Staatsschutz statt Gefahrenabwehr) und schlussendlich im Verständnis der Richteramtes: Mit der geforderten Orientierung an der vom Führerwillen definierten „gesunden Volksanschauung“ wurde „der Politisierung des Rechts […] Tür und Tor geöffnet. Wie letztlich alle Amtsträger des NS-Staates ist der Richter darauf angewiesen, den Willen des Führers über seine ständigen, sich aber permanent ändernden Artikulationen zu erfassen und ihm gerecht zu werden“, was nur „gesteigerte Willfährigkeit generiere“, die „unabhängige und unparteiliche richterliche Urteilsbildung (lähme)“ sowie „die Macht des Regimes (steigere)“ (S. 117f.). Überhaupt waren es „geheime Führerbefehle, mündlich geäußerte Befehle und in Briefform gekleidete Anordnungen, die neben rückwirkender Gesetzgebung das größte Unheil anrichteten“, so im Fall der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ oder des „Euthanasie-Programms“ (S. 133).
Zur zukünftigen Vermeidung derartiger Auswüchse erachtet die Verfasserin die Trennung von Recht und Moral für „unverzichtbar“. Um zu erreichen, dass Moral als „Parameter zum Testen von Rechtssystemen […] ihre kritische Funktion erhält, […] ohne in eine ideologisch pervertierte Moral abzugleiten“, fordert sie „Kriterien für eine intakte Rechtsordnung zu formulieren, dabei aber kontroversen moralischen oder gar moralisierenden Boden zu vermeiden“. Es bedürfe dringend der „Übersetzung moralischer Einsichten in allgemeine normative Bedingungen, die ein Rechtssystem zu erfüllen hat“, wie „Öffentlichkeit, Transparenz, Verstehbarkeit, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Konsistenz und Kohärenz sowie Vermeidung von Willkür und sachlich unbegründeter rückwirkender Gesetzgebung“ (S. 131ff.). Ein seinerzeit nicht vorhandenes, alle Schichten der Bevölkerung durchdringendes, gefestigtes Demokratiebewusstsein, so wird man festhalten müssen, mag aber heute wohl der beste Schutz vor einer devianten Entwicklung der Rechtsordnung sein.
Bei den angeschlossenen, gezählten 38 Quellentexten aus der Feder 24 namentlich genannter Juristen handelt es sich in der Masse um Auszüge aus umfangreicheren Schriften, die in sechs (zum Teil in sich weiter differenzierten) Themengruppen erscheinen (I: Grundsätze des NS-Rechts; II: Moralisierung des Rechts im Nationalsozialismus; III: Übergang zum NS-Staat; IV: Staat, Verfassung und Gemeinschaft; V: Gesetzgebung der Judenverfolgung; VI: Strafrecht, Polizeirecht und Rechtsprechung im Führerstaat). Die von Erich Becker bis Gustav Adolf Walz reichende Autorenliste (S. 546ff.) liest sich als ein Who‘s who juristischer Gelehrsamkeit und Praxis für den behandelten Zeitraum: Neben Größen der akademischen Szene wie Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber, Karl Larenz, Ernst Forsthoff oder Otto Koellreutter erscheinen auch führende Exponenten des Regimes, Verwaltungsjuristen in Diensten des Staates und der SS und Richter, darunter Hans Frank, Wilhelm Stuckart, Werner Best, Reinhard Höhn, Konrad Morgen und Roland Freisler. Was sie durch die Bank verbindet: „Sie waren allesamt keine überzeugten Demokraten und standen der Weimarer Republik zutiefst skeptisch, teils sogar mit offener Verachtung gegenüber“ (S. 10). Unter den einzelnen Beiträgen dürfte Carl Schmitts „Der Führer schützt das Recht“ (1934) zur Rechtfertigung der Mordaktionen im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches allgemein den größten Bekanntheitsgrad besitzen.
Im Wesentlichen zeigt dieser nützliche Auswahlband, wie grundlegend die Ideologie des Nationalsozialismus unter tatkräftiger und bereitwilliger Mitarbeit juristischer Kapazitäten in einer Zeitspanne von nur wenigen Jahren das auf den humanen Werten der Aufklärung beruhende traditionelle Rechtssystem umzukrempeln vermochte. Gleichzeitig bestätigt die philosophisch-theoretische Analyse der normativen Basis des NS-Systems einmal mehr die Unglaubwürdigkeit der längst als unhaltbar erwiesenen Mär vom hinhaltenden Widerstand der Juristenzunft gegenüber den Anmaßungen und Begehrlichkeiten der Machthaber. Leser, die mit den Grundlagen der Rechtsordnung der Hitler-Diktatur erst wenig vertraut sind, werden aus den eingangs dargelegten, übersichtlich gegliederten kommentierenden Ausführungen der Herausgeberin den größten Nutzen ziehen.
Kapfenberg Werner Augustinovic