Meurer, Gabriele, Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort - § 142 StGB - Reformdiskussionen und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (= Schriften zum Strafrecht 263). Duncker & Humblot, Berlin 2014. 231 S. Besprochen von Werner Schubert.
Der Straftatbestand des § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort [seit dem 13. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. 6. 1975], vorher: Verkehrsunfallflucht) gehört zu den rechtspolitisch und verfassungsrechtlich umstrittensten Bestimmungen des geltenden Strafrechts vor allem wegen der „exzessiven Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe und angesichts der kompliziert-unorthodoxen Beschreibung des gesetzlichen Normbefehls“ (S. 13 nach Geppert, Blutalkohol 1986, 17). Es ist schon aus diesem Grunde zu begrüßen, dass Meurer die Geschichte des genannten Tatbestandes detailliert untersucht. In dem Kapitel „Historische Grundlegung“ (S. 18ff.) geht Meurer den Vorläufern der strafrechtlichen Sanktionierung im Seerecht (VO über das Verhalten von Schiffern nach einem Zusammenstoß von Schiffen auf See von 1876) und in territorial beschränkten Polizeiverordnungen für den Reit- und Automobilverkehr (u. a. in einer VO von 1899 des Großherzogtums Hessen) nach. Es folgt ein Abschnitt über die Grundzüge des Bundesrats vom 3. 5. 1906 über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen (S. 27ff.) und über die Entstehung der ersten reichsrechtlichen Regelung der Fahrerflucht in § 22 des Gesetzes vom 3. 5.1909 über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen (S. 34ff.; Möglichkeit tätiger Reue). In den Strafrechtsreformen der späten Kaiserzeit und der Weimarer Zeit kam es zu keiner Einbeziehung der Regelung des § 22 KFG in die StGB-Entwürfe (S. 48ff., 54ff.; Ausnahme nur im Gegenentwurf von 1911).
Die Regelung der Unfallflucht im StGB als „schweren Verstoß gegen die Volksgemeinschaft“ in „Form einer Verkehrsgemeinschaft“ (S. 58ff., Zitat S. 184) geht auf die NS-Zeit zurück (Kerrlsche Denkschrift: „Nationalsozialistisches Strafrecht“, Regelung der Unfallflucht in den amtlichen StGB-Entwürfen von 1936-1939) und erfolgte durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom 2. 4. 1940 in § 139 a StGB (vorher bereits Verschärfung des § 22 KFG im Pflichtversicherungsgesetz vom 7. 11. 1939). Im Strafrechtsbereinigungsgesetz von 1953 blieb der Tatbestand des § 139 a StGB als § 142 StGB unverändert bestehen. In der Judikatur zeigten sich Ausdehnungstendenzen u. a. durch Einführung einer Wartepflicht, einer Rückkehrpflicht und eines Anzeigegebots (S. 87). Überwiegend wurde als Zweck des § 142 StGB angesehen, „die Aufklärung von Verkehrsunfällen zu erleichtern und der Gefahr eines Beweisverlustes entgegenzuwirken und auf diese Weise mittelbar zum Schutz des Straßenverkehrs und der Rechtspflege beizutragen“ (S. 86).
Eine restriktivere Auslegung des § 142 StGB setzte erst mit einer Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts sowie des Bundesgerichtshofs von 1955 (BGH ST 8, 263, 266) sowie durch eine Abhandlung des Bremer Generalstaatsanwalts Dünnebier von 1957 (S. 87f.) ein. Bei den Arbeiten der Großen Strafrechtskommission (1954-1959) und auch in der Folgezeit im Bundesjustizministerium (Entwürfe von 1960/1962) ging es um die Frage nach dem geschützten Rechtsgut, die Frage der Berechtigung des Täters, den Unfallort zu verlassen unter Berücksichtigung einer Wartefrist, und die Verpflichtung zur Rückkehr zum Unfallort nach berechtigtem Entfernen (S. 123). Erst seit der Neufassung des § 142 StGB durch das 13. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. 6. 1975 ist bestimmender Rechtsgrund für das nunmehr als „unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ bezeichnete Delikt die Sicherung privatrechtlicher Entschädigungsansprüche (S. 144ff., 186). Die Versuchsstrafbarkeit war entfallen. Die Reformdiskussion insbesondere auf den Verkehrsgerichtstagen und Vorschläge zur Entkriminalisierung der Länder Berlin und Hessen führten 1998 im Strafrechtsreformgesetz zu einer Regelung der tätigen Reue (Abmilderung oder Absehen von Strafe nach einem Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs bei „ausschließlich nicht bedeutendem Sachschaden“). Die Bestimmung des § 142 StGB ist weiterhin in der rechtspolitischen und insbesondere in der verfassungsrechtlichen Diskussion. Im Schlusskapitel bringt Meurer eine Zusammenfassung (S. 182ff.) und eine „Würdigung“ (S. 190 ff.), in der die Frage nach dem „aktuellen Bedürfnis für die strafrechtliche Regelung der Unfallflucht“ gestellt wird.
Das Werk wird abgeschlossen mit der Wiedergabe von Entwurfstexten und Gesetzestexten zur Unfallflucht im Verlauf der strafrechtlichen Entwicklung (S. 197ff., 207ff.) sowie mit einem ausführlichen Quellen- und einem Literaturverzeichnis und abschließend mit einem hinreichend aussagekräftigen Sachverzeichnis. Insgesamt hätte vielleicht noch stärker die rechtspolitische Diskussion zu § 22 KFG in der Weimarer Zeit und, außerhalb der Strafrechtsentwürfe, die nicht allgemein zugänglich waren, auch in der NS-Zeit berücksichtigt werden sollen. Inwieweit gab es Stellungnahmen zu dem Aufsatz Krugs in der DJ 1937, 147? Auch eine etwas detailliertere Heranziehung der Judikatur – auch wenn dies nicht zur eigentlichen Thematik der Untersuchungen gehörte – zu § 22 KFG und zu § 139a StGB zwischen 1941 und 1944 (vgl. den Hinweis auf S. 183 auf eine Reichsgerichtsentscheidung) sowie der frühen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, über die auf der Seite 87 nur summarisch berichtet wird, letzteres auch unter dem Gesichtspunkt, ob in dieser Zeit das dem § 139a StGB zugrunde liegende Gedankengut thematisiert wurde.
Insgesamt liegt mit den Untersuchungen von Meurer eine detailreiche, höchst lesenswerte historische Untersuchung zu einem wichtigen Straftatbestand vor, der weiterhin umstritten bleiben wird.
Kiel |
Werner Schubert |