Kasper, Peter, Das
Reichsstift Quedlinburg (936-1810) - Konzept . Zeitbezug - Systemwechsel.
V&R Academic, Göttingen 2014. 461 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Erstmals urkundlich erwähnt wurde Quedlinburg als villa quae dicitur Quitilingaburg in einer Urkunde des aus Sachsen kommenden Königs Heinrich I. vom 22. April 922. Als er am 2. Juli 936 im nahen Memleben starb, wurde er auf dem Schlossberg in der königlichen Kapelle und Kirche Sankt Peter vor dem Altar bestattet. Seine Gattin ließ vom Sohn und Nachfolger Otto I. die Gründung eines Damenstifts mit der Aufgabe des Totengedächtnisses bestätigen, das in wechselnden Formen fast 900 Jahre an einem herausragenden, wenn auch auf dem Einband nur eingerüstet dargestellten Ort Bestand hatte.
Seiner Geschichte ist die noch vom Großvater Volkmar K. H. Kranz (1870-1949) angeregte, von Anton Schindling betreute, im März 2013 von der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene Dissertation des in Bielefeld 1942 geborenen und von 1962 bis 1968 in Germanistik, Geschichte, evangelischer Theologie und Philosophie in Bethel, Münster, Kiel, Berlin und Freiburg im Breisgau ausgebildeten und von 1972 bis 2007 im Schuldienst in Baden-Württemberg und in den Vereinigten Staaten von Amerika tätigen Verfassers gewidmet, die hierfür Aktenbestände erstmalig nutzen konnte. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über Forschungsstand und Methode in elf Abschnitte. Sie betreffen memoria und Repräsentation, Landesherrschaft im dualen System des 11. bis 15. Jahrhunderts, die säkularisierte Herrschaft von 1495 bis 1555, die Landesherrschaft als Kondominat, die Destabilisierung des Systems, den Wandel vom Fürstenstaat zum Bürgerstaat, den Ausbau und die Erosion des Herrschaftssystems ab 1740, die Säkularisation und Mediatisierung, die Auflösung des Systems im Königreich Westphalen und die Aufhebung des Stiftes in der Spannung zwischen Reformstaat und Fremdherrschaft.
Im Ergebnis sieht der Autor das Stift als soziales System aus acht Komponenten, von denen Kaiser, Reich, Fürsten, Kirche, Papst und König der Mitte zugeordnet sind und Immunität, Königshof, Tafelgüter, Stift, Kapitel, Äbtissin, Herrschaft, Exemtion, Memoria, Kanonissen, Schutz und Grablege dem Rande zuzustreben scheinen. Dabei verwirklichte das Stift weibliche Herrschaft als besondere Herrschaftsform, schwächte aber 1479 die Landesherrschaft nachhaltig durch die Begründung der Erbvogtei, in welcher der Schutzherr seine Herrschaftsrechte bis zum Kauf der Schutzherrschaft 1697/1698 erweiterte und die beiden letzten Äbtissinnen dem Stift und den Untertanen durch Veruntreuung von Stiftseinkünften für persönlichen Aufwand schadeten. Demgegenüber war der Untergang des Reiches im Jahre 1806 nach den ansprechenden Erkenntnisses des Verfassers für das Ende des erstmals seit 90 Jahren wieder in einer vielseitigen, zu vielfältigen eigenständigen Ergebnissen führenden Gesamtschau erfassten, anfangs bedeutenden Stiftes von geringerem Gewicht.
Innsbruck Gerhard Köbler