Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche, hg. v. Gehler, Michael/Rollinger, Robert unter Mitarbeit v. Fick, Sabine/Pittl, Simone. Teil 1: Imperien des Altertums, mittelalterliche und frühneuzeitliche Imperien. Teil 2: Neuzeitliche Imperien, zeitgeschichtliche Imperien, Imperien in Theorie, Geist, Wissenschaft, Recht und Architektur, Wahrnehmung und Vermittlung. Harrassowitz, Wiesbaden 2014. IX, 1762 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als Ludwig Wittgenstein 1921 in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nachging, kam er zu dem häufig zitierten Schluss, dass man darüber, wovon man nicht reden könne, schweigen müsse. Mit Blick auf unsere alltägliche Kommunikation wird rasch klar, wie wenig uns das Schweigegebot des Philosophen heute gilt, im Gegenteil: Je unklarer mancher Begriff, so scheint es bisweilen, desto inflationärer erfolgt sein Gebrauch. So wird auch vom Imperium viel und gerne gesprochen, zuletzt vor allem in Zusammenhang mit der Exklusivrolle der Vereinigten Staaten von Amerika als geglaubt letzter globaler Hegemon und den expansiven Tendenzen von Putins Russland. Schweigen ist allerdings ebenso wenig ein probates Mittel, der Banalisierung von Begriffen Einhalt zu gebieten; allein wissenschaftliche Analyse, hervorgegangen aus breit angelegter Diskussion, verspricht die erhoffte Schärfung.
Ein erster Blick in die beiden Halbbände des vorliegenden Werks von enzyklopädischen Ausmaßen offenbart, wie groß die Anzahl jener Entitäten ist, denen im Lauf der Geschichte der Menschheit zumindest Elemente imperialer Wesenheit zugesprochen werden können: 18 Beiträge beschäftigen sich mit antiken Reichsbildungen (altorientalische „Imperien“ im 3. u. frühen 2. Jt. v. Chr; Babylonien in der 2. Hälfte des 2. Jt. v. Chr.; das Neuassyrische Reich; das Neubabylonische Reich; das teispidisch-achaimenidische Imperium; das Hethiterreich; Ägypten im 3. und in der 1. Hälfte des 2. Jt. v. Chr.; Ägypten im Neuen Reich; das Reich von Kusch; Urartu; das attische Seereich 478 - 404 v. Chr. u. das spartanische Hegemonialreich nach 404 v. Chr.; das Königreich Makedonien vor und nach Philipp II.; die Diadochenstaaten; Rom; Parther und Sasaniden; das oströmische Imperium 4. - 6. Jh., das Imperium Justinians I.; der Maurya-Staat 4. – 2. Jh. v. Chr.; chinesische Imperien), 13 mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit (Umayyad; die Reiche der Fatimiden, Ayyubiden und Mamluken; die Reiche der Almoraviden und Almohaden; Imperien in Indien; das mongolische Imperium; das Byzantinische Reich; das Reich der Ottomanen; Merowinger und Karolinger; die europäische Staatenwelt im hohen und späten Mittelalter; das Heilige Römische Reich deutscher Nation; der Heilige Stuhl und die Päpste; das schwedische Reich; der aztekische Dreibund), zwölf mit der Neuzeit (das spanische Weltreich; das Universalreich Karls V.; das Imperium Philipps II. von Spanien; das Napoleonische Reich; Frankreich 1830 – 1962; das portugiesische Imperium; das belgische Kolonialreich 1885/1908 – 1960; das holländische Kolonialreich; die Habsburgermonarchie in der frühen Neuzeit; das Habsburgische Reich – Grundelemente und Bewertungen; das russländische Imperium 1721 – 1917; das britische Empire) und sieben mit zeitgeschichtlichen Herrschaftsgebilden (das Dritte Reich; Mussolinis faschistisches Imperium; die Sowjetunion; die USA; die Europäische Union; japanische Großmachtpolitik 1872 – 1945; das chinesische Imperium). Trotz dieser außerordentlichen Breite und Fülle betonen die Herausgeber Michael Gehler (Hildesheim) und Robert Rollinger (Innsbruck/Helsinki), dass der Leser „auch in diesem Band das eine oder andere Imperium vermissen“ werde und nennen exemplarisch „die islamischen Großreiche Irans und Zentralasiens wie jene der Safawiden und Qadjaren, der Großseldschuken, Ghaznawiden und Chorezm-Schahs, Timurs und der Timuriden […,] antike Reichsbildungen wie das alte Elam, das Palmyrenische Reich Zenobias oder der Flächenstaat der Kuschan in Indien und Zentralasien […,] das Khalifat der Abbasiden […,] das Inka-Reich oder zahlreiche andere überregionale Territorialstaaten von Altamerika (bis 1492) und Nordamerika (Kanada, USA und Mexiko), aber auch Afrikas“ (S. 26f.).
Das grundsätzliche Anliegen der Herausgeber und ihrer zahlreichen prominenten Beiträger – das Autorenverzeichnis S. 1735ff. erfasst 60 Personen und stellt sie kurz mit ihren Forschungsschwerpunkten vor – besteht somit im Bemühen, über einen zeitlich wie räumlich umfassenden Ansatz mögliche Imperien zu identifizieren und aus deren Beschreibung Kriterien abzuleiten, die letztendlich eine sinnvolle und handhabbare Definition des Begriffs des Imperiums erlauben. Nicht ganz konsequent, gleichwohl aus praktisch-methodischen Gründen nachvollziehbar erscheint es, wenn die Idee eines vorher erstellten, abstrakten Musterkatalogs der Merkmale, anhand derer die jeweiligen Herrschaften auf ihre Qualität als Imperium zu prüfen wären, zwar wegen der Gefahr eines Zirkelschlusses Ablehnung erfährt, die Herausgeber allerdings dann selbst nicht umhinkommen, a priori Maßstäbe zu definieren, die es erst ermöglichen, entsprechende Kandidaten in die Vorauswahl einzubeziehen. So wurden als Ausgangspunkt „zwei Kriterien als maßgeblich erachtet: Erstens waren die betreffenden Staatenbildungen als Großreiche zu definieren, die über eine beträchtliche transregionale Flächenausdehnung verfügten. Zweitens wurde ein transnationaler Charakter als essentiell erachtet. Multiethnizität und Multikulturalität wurden als wesentliche Faktoren angesehen“ (S. 18). In die Analyse waren sowohl die realgeschichtlichen als auch rezeptionsgeschichtliche Elemente einzubeziehen, wie die Fragen nach der Entstehung, den Strukturen, nach Aufstieg, Ausdehnung, Selbstwahrnehmung und Dauerhaftigkeit, aber auch nach dem ideell-politischen und dem ganz konkreten alltäglichen Nachwirken solcher Herrschaften. Theoretische Überlegungen zum Begriff des Imperiums wurden bislang von globalgeschichtlich orientierten Forschern wie Jürgen Osterhammel und Hans-Heinrich Nolte, aber auch von Politologen wie Herfried Münkler oder Ulrich Menzel bereitgestellt.
Tatsächlich synthetisieren die Herausgeber schließlich die Essenz der einzelnen Beiträge zu einem „vorläufige(n) Definitionsversuch des Imperium(s) als epochenübergreifendes Phänomen“ (S. 22ff.). Demnach sprengen Imperien „die gängigen zeittypischen Raumdimensionen“ und verfügen über dynamische, fließende äußere Grenzen mit einem daraus resultierenden, theoretisch die ganze „Welt“ umfassenden, „transterritoriale(n) Herrschaftsanspruch“. „Multiethnizität und religiöse(r) Pluralismus“ seien konstitutive Merkmale solcher Reiche, hingegen seien sie „nicht an bestimmte Staatsformen gebunden“ und verfügten „nicht notwendigerweise, aber in der Regel über ein starkes politisches Zentrum“. Wesensbestimmend sei auch „ein als Ideologie zu bezeichnendes Weltbild, das sich teilweise […] als ‚Agenda‘ bezeichnen lässt und sich als Friedens-, Kultur- und Zivilisierungsmission oder als Sicherheits- und Wohlstandsgarantie versteht“, in Verbindung mit der Fähigkeit, „äußere(n) Bedrohungen“ ebenso Herr zu werden wie „inneren Gefährdungen“. Trotz der klaren Ausrichtung dieser Definition betonen Michael Gehler und Robert Rollinger, dass sie bemüht seien, „das Phänomen ,Imperium‘ nicht auf den vornehmlichen Aspekt eines historisch gewachsenen Staates mit seinem Herrschaftsapparat und seinen Institutionen zu reduzieren“, und wollen unter anderem auch Erscheinungen wie „Vereinsimperien des Massensports wie […] Bayern München, […] CF Barcelona oder Real Madrid“ sowie „Imperien der Massenkultur wie (die) Beatles, Michael Jackson, (die) Rolling Stones“ oder „der Hochkultur wie (das) Neujahrskonzert und (die) Wiener Philharmoniker“ einbezogen wissen. Hier wird man wohl fragen dürfen, ob ein solch exzessiv angelegter Ausflug in den „weiten Ozean der Imperiumsdebatte mit seiner unüberschaubaren Vielzahl an Inseln und Atollen“ (S. 28) nicht weniger zur Klarheit beitragen als vielmehr die Gefahr des Kenterns und des Verzettelns im Unbestimmten fördern könnte.
Die Beziehung von Imperium und Völkerrecht berührt vornehmlich der The Paradigmatic Implications of International Law and the End of Empire (S. 1469ff.) betitelte, dreißig Druckseiten einnehmende, englischsprachige Aufsatz des US-amerikanischen Historikers Herbert Reginbogin (Lefke, Zypern). Reginbogin, der sich in seinen früheren Arbeiten mit der Rolle der neutralen Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und mit den Nürnberger Prozessen näher beschäftigt, bemüht sich im vorliegenden Beitrag um eine Skizzierung des Wesens der amerikanischen Großmacht- und Interventionspolitik im Licht völkerrechtlicher Maßstäbe, indem er die Frage stellt: „What paradigmatic implications does international law have on the USA vs. other Empires? Can it simply discard and utilize international law like other Empires or ist the USA exceptionally implicated in the politics of international law? Will the turning point to ‚end empires‘ be an benevolent hegemon like the USA as an anchor of global security based on multilateralism, the new ‚nomos‘ of the earth or will empires continue to emerge with the strategic calculation of national interest and pure raison d’état?“ (S. 1469). Er verweist zunächst auf die völkerrechtliche Pionierleistung der Vereinigten Staaten, die sich im Zuge ihres Aufstiegs zu einer Hegemonialmacht der globalen Geltung demokratisch-liberaler Grundrechte verschrieben hätten, indem etwa über den Weg höchstrichterlicher Entscheidungen die Prinzipien von Nürnberg auch in die amerikanische Verfassung Eingang gefunden hätten. Mit der Jahrtausendwende seien dann zunehmend Bedenken eines Missbrauchs dieser Verfassung zur Legitimierung des von den USA massiv propagierten, aber völkerrechtlich höchst fragwürdigen „War on Terror“ laut geworden. Wesentlich für den Verfasser ist jedoch die Beobachtung, dass die Vereinigten Staaten bei all ihrer der politischen Praxis geschuldeten Flexibilität im Grundsätzlichen loyal zur Idee des Völkerrechts stünden: „It was easier for the U.S. to be moralistic and stress the importance of law before assuming global responsibilities. The U.S. still argues for the rule of law as long as it does not limit their freedom of action. […] The bottom line ist that despite of many contradictions, neglect, and misuse of international law, the USA will not abandon its support of international law, its procedures and institutions. America has learned how to work around the system and have even learned how to skate at the edge of the system as so many others have done and are doing“ (S. 1492). Diese Auslegung beschreibt zwar zweifelsohne die politische Realität, wird jedoch auf der anderen Seite die zahlreichen Kritiker der USA, die an deren Status eines „benevolent hegemon“ begründete Zweifel anmelden, und auch manchen Dogmatiker des Völkerrechts sicherlich nicht zufriedenstellen.
In Summe gesehen liegt hier ein Sammelwerk vor, das durch seine beachtliche thematische Breite wertvolle Grundlagenarbeit zur Erforschung von Großreichen leistet. Die Lektüre führt vor Augen, wie überaus hoch schon die bloße Anzahl der Herrschaften ist, die, von Menschen geschaffen, sich im Lauf unserer Geschichte über einen weiten Teil des Erdballs verteilt finden und die es anhand der erarbeiteten Kriterien näher zu erforschen gilt. Es ist erfreulich, dass dieses durch die beiden Herausgeber greifbar repräsentierte, ambitionierte Innsbruck-Hildesheimer Gemeinschaftsprojekt nun vier Jahre nach der internationalen Großtagung zum 1000-Jahr-Jubiläum von St. Michael in Hildesheim (25. April bis 1. Mai 2010) nicht zuletzt dank großzügiger Förderung durch verschiedene Institutionen im Druck eine gefällige Realisierung und Aktualisierung erfährt.
Kapfenberg Werner Augustinovic