Die Waffen-SS.
Neue Forschungen, hg. v. Schulte, Jan Erik/Lieb, Peter/Wegner, Bernd (=
Krieg in der Geschichte 74). Schöningh, Paderborn 2014. 446 S. Besprochen von
Werner Augustinovic.
Die Reihe „Krieg
in der Geschichte“ (KRiG) des Verlagshauses Ferdinand Schöningh in Paderborn
widmet sich in einem breiten methodischen Ansatz der Erforschung des Krieges
als eines universalen Menschheitsphänomens. Mit dem an der Universität Hamburg
wirkenden Professor für Neuere und Neueste Geschichte Bernd Wegner liegt –
neben Stig Förster, Bernhard R. Kroener und Michael Werner – die fachliche
Betreuung dieses Unternehmens in der Hand jenes Mannes, der mit „Hitlers
Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945“ (1982) vor mehr als drei
Jahrzehnten die deutsche Forschung zu diesem Thema erst entscheidend angestoßen
hat. Im Verein mit Jan Erik Schulte, Leiter der Gedenkstätte Hadamar, und Peter
Lieb vom Department of War Studies der Royal Military Academy Sandhurst hat er
nunmehr als 74. Band der genannten Reihe das vorliegende Werk herausgebracht,
das den Anspruch erhebt, „der erste wissenschaftliche Sammelband zur Geschichte
der Waffen-SS überhaupt“ (S. 15) zu sein. Die - eingeschlossen die Herausgeber
- insgesamt 27 männlichen und weiblichen Autoren sind nahezu ausnahmslos
bereits mit einschlägigen Publikationen hervorgetreten und haben die Ergebnisse
ihrer Forschungen auf zwei Tagungen mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt
im Dezember 2010 in Dresden („Vergemeinschaftung und Ausgrenzung. Neuere
Forschungen zur Geschichte der Waffen-SS“) sowie im Mai 2011 in Würzburg
(„Kolloquium zur Geschichte der Waffen-SS“) zur Diskussion gestellt.
Die versammelten
Beiträge bemühen sich, das populär rezipierte, zum Teil noch stark von der
zeitgenössischen nationalsozialistischen Propaganda beeinflusste Bild der
Waffen-SS auf seine Stichhaltigkeit abzuklopfen und mittels empirischer
Forschung zu überprüfen. Am Umstand, dass deren Mitglieder nicht bloß „Soldaten
wie andere auch“ (SS-Oberst-Gruppenführer und Generaloberst der Waffen-SS Paul
Hausser) gewesen waren, bestehen heute zwar keine reellen Zweifel mehr, doch
fällt die Konturierung eines präzisen Bildes dieser sich selbst als
militärische Elite präsentierenden Organisation wegen des teilweisen Fehlens
aussagekräftiger Untersuchungen noch erstaunlich unscharf aus. Einem Forschungsüberblick
aus der Feder der Herausgeber folgt die Aufbereitung des Themas in vier
inhaltlichen Blöcken.
Unter der
Überschrift „Strukturen und Akteure“ geht es zunächst um die Verortung der
Waffen-SS im Gefüge des Gesamtapparates der SS. Militärische, politische und
ideologische Gründe für die Expansion der Waffen-SS (Jean-Luc Leleu), ihre
Rekrutierungspraxis (René Rohrkamp) und die SS- und Polizeigerichtsbarkeit
(Christopher Theel) kommen ebenso zur Sprache wie die Interdependenzen mit dem
System der Konzentrationslager (Stefan Hördler). Kollektivbiographisch werden
zudem Tätigkeiten, Dienststellen und Einsätze von Frauen im
Organisationsapparat der Waffen-SS (Jutta Mühlenberg) unter die Lupe genommen,
während sich ein weiterer Beitrag mit dem Selbstverständnis des
SS-Obergruppenführers und Generals der Waffen-SS Karl Wolff, seinerzeit
Höchster SS- und Polizeiführer Italien, auseinandersetzt (Kerstin von Lingen).
Etwas überraschend findet sich in dieser Themengruppe auch ein Aufsatz zur
Geschichte der estnischen Einheiten der Waffen-SS (Toomas Hiio), der wohl
besser in den zweiten Abschnitt des Bandes gepasst hätte.
Denn dort fällt
der Blick unter den Leitbegriffen „Vergemeinschaftung und Selbstverständnis“
exemplarisch auf einige nicht-reichsdeutsche Verbände der Waffen-SS zwischen
Freiwilligkeit und Zwangsrekrutierung im Rahmen jeweils spezifischer politischer
Gemengelagen. Erörtert werden Ziele und Motivation der Volksdeutschen in
Jugoslawien (Thomas Casagrande) und Rumänien (Paul Milata), der bosnischen
(Stefan Petke) und albanischen (Franziska Zaugg) Muslime, aber auch von
Norwegern (Sigurd Sørlie) und Dänen (Claus Bundgård Christensen, Niels Bo
Poulsen, Peter Scharff Smith).
Der dritte
Abschnitt, betitelt „Krieg und Verbrechen“, versucht darzulegen, welchen
Einfluss die verstärkte ideologische Schulung der Soldaten der Waffen-SS, wie
sie beispielsweise der jungen Führergeneration an den Junkerschulen zuteil
wurde (Jens Westemeier), auf deren Leistungen im Kampf und die Anfälligkeit für
Kriegsverbrechen genommen haben dürfte. Letztere sind beispielsweise für den
Einsatz der Brigaden des Kommandostabes Reichsführer-SS im Osten (Martin
Cüppers) oder der 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer-SS“ in Italien
(Carlo Gentile) sowie für die Endphase des Krieges 1945 (Sven Keller)
nachgewiesen. Zwei Beiträge bemühen sich, einen nachvollziehbaren Vergleich der
militärischen Leistungen von Waffen-SS und Wehrmacht an Hand der Schlacht im
Kursker Bogen im Sommer 1943 (Roman Töppel) und des Panzereinsatzes in der
Normandie 1944 (Peter Lieb) anzustellen.
Wie die
Waffen-SS insgesamt (Jochen Lehnhardt) und ihre prominenten Führer, so etwa der
Inspekteur der Konzentrationslager der Vorkriegszeit und „Totenkopf“-Kommandeur
Theodor Eicke (Niels Weise), von der nationalsozialistischen Propaganda in
Szene gesetzt worden sind, ist Gegenstand des abschließenden vierten Kapitels.
Hierin geht es auch um das Nachleben der Waffen-SS, vertreten durch zwei
Beiträge; der erste, vor allem rechtsgeschichtlich interessante, zeigt, „wie
Wehrmachtoffiziere und -juristen dem Waffen-SS-General Max Simon in den
Brettheim-Prozessen von 1955 bis 1960 zu Hilfe kamen“ (Franz Josef Merkl), der
zweite skizziert eine Geschichte der Truppenkameradschaften der Waffen-SS von
1950 bis 1990 (Karsten Wilke).
Im Gesamten
machen die teils widersprüchlichen Erkenntnisse dieses Sammelbandes deutlich,
dass die Geschichte der Waffen-SS noch keineswegs als gut erforscht gelten
kann. Folgerichtig halten die Herausgeber daher fest: „Indem sich das Bild von
der Waffen-SS als einer durchaus heterogenen Organisation herausschält, die
sich aus Angehörigen verschiedenster Schichten, Altersgruppen, ethnischer und
nationaler Zugehörigkeit rekrutierte, zugleich allerdings Strukturen
weltanschaulichen und sozialen Zusammenhalts entwickelte, ohne die sie nicht
einsatzfähig gewesen wäre, eröffnet sich noch so manches unbearbeitete
Forschungsfeld“ (S. 22). So fehlen, was die Stellung der Waffen-SS im
Gesamtgefüge der SS angeht, bislang grundlegende Untersuchungen zu zentralen
Behörden wie dem SS-Führungshauptamt und dem für die Rekrutierung zuständigen
SS-Hauptamt. In der Kontroverse um den Elitecharakter seien „innovative Ansätze
und weitere Fallstudien nötig, um die Frage zu beantworten, ob die
militärischen Leistungen der Waffen-SS auf dem Schlachtfeld ihren
Selbstanspruch als Elite wirklich begründen konnten“, weshalb „eine
Operationsgeschichte der Waffen-SS […] des Forschens noch wert“ sei (S. 17).
Auch in der Frage der Kriegsverbrechen bestehe noch Klärungsbedarf, denn
während Studien zur Partisanenbekämpfung in Frankreich und Italien zum Ergebnis
kommen, „dass Einheiten der Waffen-SS deutlich mehr Kriegsverbrechen begingen
als Einheiten der Wehrmacht – und zwar nicht nur hinter, sondern auch an der
Front bei Erschießungen von Kriegsgefangenen“ und die „Ideologie ein wichtiger
- wenngleich auch keineswegs der einzige - Faktor im Hinblick darauf (war), ob
eine Einheit Kriegsverbrechen beging“ (S. 18), stehen systematische Vergleiche
zwischen Wehrmacht und Waffen-SS für den südosteuropäischen und vor allem für
den sowjetischen Kriegsschauplatz noch weitgehend aus. Im Fall der
nicht-reichsdeutschen Angehörigen der Waffen-SS offenbaren die Studien des
vorliegenden Bandes unter Berücksichtigung der zweifellos vorhandenen repressiven
Elemente, dass tendenziell „die Waffen-SS […] eine Freiwilligenorganisation (war),
deren Mitglieder vielfach auch über nationale Grenzen hinweg annähernd
gemeinsame oder zumindest kompatible ideologisch-politische Überzeugungen
teilten“ (S. 21). Die an diesen Gemeinsamkeiten ansetzenden Prozesse der
Vergemeinschaftung wiederum wiesen in eine sozial- und kulturgeschichtliche
Richtung, der sich des Weiteren wirkungsgeschichtlich orientierte
Untersuchungen zur Propaganda und zu Folgen und Kontinuitäten der Geschichte
der Waffen-SS anzuschließen hätten.
Ausgestattet ist
dieses den aktuellen Stand der Forschung zur Waffen-SS demonstrierende, an
Facetten reiche, aber von Fehlern nicht verschonte Werk (so etwa S. 14, Fußnote
18: „Under hagekors og Danneborg“ statt richtig „Dannebrog“; S. 176 ist im
Zusammenhang mit dem Massaker von Otok nahe Split fälschlich vom
„volksdeutschen SS-Obersturmbannführer Dietsche“ die Rede, der tatsächlich
Reichsdeutscher und Absolvent des Jahrgangs 1936 der SS-Junkerschule Tölz war)
mit wenigen markanten Abbildungen, einem Autorenverzeichnis und einem nicht
ganz verlässlichen Personenindex (beispielsweise wird für Karl-Gustav
Sauberzweig, Kommandeur der 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS „Handschar“, nur
auf die S. 266 verwiesen, obwohl dieser im Text an anderen Stellen - so S. 240,
243, 253, 256 oder 264 - mehrfach genannt wird).
Kapfenberg Werner Augustinovic