Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Band 4: Prozessrecht (= Norm und Struktur 37, 4), hg. v. Mausen, Yves/Condorelli, Orazio/Roumy, Franck/Schmoeckel, Mathias, Böhlau, Köln 2014. XVIII, 361 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Von dem umfassenden Werk über den Einfluss der Kanonistik auf die europäishe Rechtskultur ist nunmehr Band 4: Prozessrecht erschienen. Band 1 (2009) hat die Einflüsse im Bereich des Zivil- und Zivilprozessrechts zum Gegenstand (dazu B. Kram, ZRG 128 Kan. Abt. 97, 2011, S. 514 ff.; G. Wesener, ZRG Germ. Abt. 128, 2011, S. 463 ff.), Bd. 2 im Bereich des Öffentlichen Rechts (dazu G. Köbler, ZIER 4, 2014), Bd. 3 im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts (dazu G. Köbler, ZIER 3, 2013).

 

Die Beiträge zum Prozessrecht des Bandes 4 beruhen auf Vorträgen von Fachvertretern, gehalten im November 2011 im ehemaligen Kloster Royaumont bei Paris. Dieser Band 4 hat bereits eine umfassende Besprechung durch Maura Mordini in ZIER 4, 2014 gefunden. In vorliegender Besprechung sollen daher nur die Beiträge von Andrea Padovani, Olivier Descamps, Orazio Condorelli, Harry Dondorp, David von Mayenburg, Hans-Georg Hermann, Mathias Schmoeckel, Anne Lefebvre-Teillard und Peter Landau stärker hervorgehoben werden.

 

Andrea Padovani, L’argomentazione dialettica negli ordines iudiciarii canonistici. Secoli XII-XIII (S. 21-43), untersucht die dialektische Argumentation in den ordines iudiciarii des 12. und 13. Jahrhunderts. Eine größere Anzahl von dialektischen Stellen, u. a. solche des Tancredus de Bononiensis, Bernardus Dorna und Roffredus Beneventanus, bilden die Grundlage der Studie (S. 27ff.). Die ordines iudiciarii waren primär für die Gerichtspraxis bestimmt, dienten aber auch dem Rechtsunterricht.

 

Olivier Descamps, Aux origines de la procédure sommaire. Remarques sur la constitution Saepe contingit (Clem., V, 11, 2), (S. 45-64), zeigt die Quellen der Konstitution Saepe contingit (a. 1314) auf und geht auf die Anfänge des summarischen Verfahrens ein, die bei den Glossatoren liegen. Das Thema wurde vor bald sechzig Jahren von Ch. Lefebvre in der Abhandlung „Les origines Romaines de la procédure sommaire aux XIIe et XIIIe siècles » (in : Ephemerides Juris Canonici 12, 1956, S. 3 ff.; dazu A. Steinwenter, ZRG 75 Kan. Abt. 44 S. 392 ff.) erörtert, wobei der Verfasser die unmittelbaren Vorläufer der Dekretale Saepe contingit behandelt hat. Artur Steinwenter, einer der besten Kenner des spätrömischen Prozessrechts, hat in einer Studie (Das Verfahren sine scriptis im justinianischen Prozeßrechte, in: ZRG Rom. Abt. 76, 1959, S. 306 ff.) Abweichungen vom ordentlichen Verfahren untersucht. Einen Summarprozess im technisch-präzisen Sinne hat es im spätrömischen Verfahrensrecht aber nicht gegeben (Steinwenter S. 309).

 

Orazio Condorelli, Un contributo bolognese alla dottrina del processo romano-canonico: il Tractatus de accusationibus et inquisitionibus di Bonincontro di Giovanni d’Andrea († 1350), (S. 65-90), befasst sich mit der Lehre des römisch-kanonischen Prozesses aufgrund des ‚Tractatus de accusationibus et inquisitionibus‘ des Bonincontro, Sohn des Johannes Andreae, und zeigt die Bedeutung dieses Werkes für die Zeitgenossen auf.

 

Harry Dondorp, Klagen auf Schadenersatz oder Erfüllung. Das Petitum in der Prozessliteratur bis Durantis (S. 91-112), geht in seinem gehaltvollen Beitrag auf die Konkretisierung des Petitums ein. Bernardus Dorna († ca. 1257) hat als erster für jede im arbor actionum des Johannes Bassianus genannte Klage eine Klageschrift formuliert. Die Glossatoren vertraten grundsätzlich den Standpunkt , dass auf die Sache selbst geklagt werden müsse, wenn eine obligatio dandi vorlag (S. 98 ff.). Im 13. Jahrhundert anerkannten die Glossatoren aber drei Fälle, in denen der Richter nicht auf die Sache, sondern auf den Sachwert verurteilen sollte (S. 101).

 

David von Mayenburg, Die Rolle des kanonischen Rechts bei der Entwicklung des officium iudicis als rechtliche Handhabe in Untertanenkonflikten (S. 113-138) zeigt, dass das officium iudicis von Kanonisten weiterentwickelt wurde und in der Praxis eine bedeutende Rolle gespielt hat. Dem Richteramt kamen im Bereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit nicht nur administrative, sondern auch seelsorgerische Funktionen zu. Der Grundsatz der aequitas, der Billigkeit, wurde in starkem Maße berücksichtigt (S. 123). Besondere Bedeutung kam dem officium iudicis in Prozessen von Untertanen gegen ihre Herren zu.

 

Hans-Georg Hermann, Hürden und Hilfen bei der Richterablehnung: das iuramentum perhorrescentiae (S. 173-208), geht auf positive und negative Einflussmomente der Kanonistik ein (S. 202ff.). Hauptargument gegen niedrige Voraussetzungen der Rekusation war seit jeher die Gefahr einer Prozessverschleppung.

 

Mathias Schmoeckel, Ambrosius und der Prozess der Indicia. Verfahrensarten der Kirchenväter (S. 253-284), zeigt die Bedeutung der Kirchenväter für das Institut der Appellation auf. Bischof Ambrosius hatte gute Kenntnisse des römischen Rechts, entwickelte aber Tendenzen für ein eigenständiges kirchliches Verfahren (S. 282).

 

Anne Lefebvre-Teillard, L’appel a gravamine (S. 285-305), behandelt das für die Kanonistik typische Institut der appellatio a gravamine, womit es möglich war, ein Rechtsmittel unter Umständen schon vor dem Urteil (ante sententiam) einzulegen.

 

Peter Landau, Die Anfänge der Appellation in Mitteleuropa im hohen Mittelalter (S. 307-324), behandelt zunächst das Rechtsmittel der Läuterung im sächsischen Prozess. G. Buchda (Die Rechtsmittel im sächsischen Prozess, ZRG Germ. Abt. 75, 1958, 274 ff.) hat zu Recht die Meinung vertreten, dass die Urteilsschelte neben der Läuterung bestand. Seit etwa 1500 habe sich die Appellation aus der Urteilsschelte entwickelt und letztere schließlich verdrängt. Das königliche Kammergericht entwickelte sich zu einem Appellationsgericht (Landau S. 312). Eingehend behandelt wird die Appellation im klassischen kanonischen Recht im Unterschied zum römischen Recht (S. 312 ff.). Erörtert werden die libertas appellationis in der Kanonistik, das Appellationsrecht bei Gratian und bei den Dekretisten, die Appellation in der Prozessliteratur des 12. Jahrhunderts  sowie die einschlägige Gesetzgebung des vierten Laterankonzils 1215, die von Tankred in seinem Prozessordo berücksichtigt werden konnte.

 

Die Beiträge geben in ihrer Gesamtheit ein gutes Bild der Forschungsgebiete und Methoden der Kanonistik des Mittelalters im Bereiche des Prozessrechts. Seit dem 12. Jahrhundert werden Zivilprozess und Strafprozess deutlich unterschieden. Im gelehrten Prozessrecht wurde eine intensive Verbindung von römischem und kanonischem Recht entwickelt.

 

Graz                                                               Gunter Wesener