Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur,
Band 2 Öffentliches Recht, hg. v. Roumy, Franck/Schmoeckel,
Mathias/Condorelli, Orazio (= Norm und Struktur 37. 2). Böhlau, Köln 2011. XII,
446 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Wann das
öffentliche Recht als besonderes Rechtsgebiet entstanden ist, ist nicht
wirklich eindeutig geklärt. Zum einen ist ius publicum bei den Römern nach
einer Ulpian (170?-223) zugeschriebenen Erklärung
([lat.] quod ad statum rei Romanae spectat, also das Recht, das die
Verhältnisse des römischen Gemeinwesens betrifft. Zum anderen setzt die
Systematisierung auch des römischen Rechtes erst mit der um 1100 beginnenden
Rechtswissenschaft ein und wird der gesamte Rechtsstoff anscheinend erst am
Beginn der Neuzeit an den Universitäten nicht mehr in der einfachen
Legalordnung vorgetragen, sondern werden Strafrecht, Prozessrecht und
Staatsrecht in eigenen Vorlesungen behandelt und damit letztlich vom übrigen
Recht getrennt, so dass dieses letztlich als ius privatum eine neue Einheit bilden
kann. Da im Übrigen der Inhalt des Staatsrechts wegen der mit dem Übergang von
Rom auf die neuen mitteleuropäischen Völker und Staaten eintretenden
Veränderungen vor allem im Bereich der Verfassung nicht umfassend rezipiert
wird, könnte der Kanonistik besondere Bedeutung bei der Entwicklung des
öffentlichen Rechtes zukommen.
Mit dieser Thematik befasste sich eine Tagung, die in der
Villa Vigoni in Italien vom 23. bis 26. Juli 2009 stattfand. Dabei ging es zum
einen um die Verfassungsgeschichte im weiteren Sinne, zum anderen um die
entstehende Staatlichkeit und ihre Verwaltungstechniken. Die in diesen
vielfältigen Zusammenhängen vorgetragenen, überwiegend italienischen und französischen
Referate stellt der vorliegende Sammelband im Jahre 2011 der Allgemeinheit zur
Verfügung.
Er beginnt dabei mit einer Betrachtung Mario Ascheris über
einen Kommentar zu De constitutionibus im Liber Extra (I, 2), einer Untersuchung
Florence Demoulin-Auzarys über den Beitrag des kanonischen Rechtes zu einem
gelehrten Lehnrecht und Bemerkungen Antonio Padoa-Schioppas zum Mehrheitsprinzip
im klassischen kanonischen Recht. Danach verfolgt Peter Landau die Bedeutung
des gelehrten Rechtes für die hochmittelalterliche Verfassungsgeschichte am
Beispiel des Prozesses Heinrichs des Löwen auf der Grundlage der so genannten
Gelnhäuser Urkunde, während Andreas Thier klassische Kanonistik und
kontraktualistische Tradition im Bereich des Gesellschaftsvertrags vergleicht.
Im Anschluss hieran betrachtet Charles de Miramon das droit coutumier und seine
Anerkennung durch die Geistlichkeit am Beispiel von De Sumatra in
Nordfrankreich um 1100, Clarisse Siméant den Einfluss des römisch-kanonischen
Rechtes auf die juristische Einordnung des Territoriums und Anne
Lefebvre-Teillard die kanonistischen Grundlagen einiger Grundzüge der modernen
Schiedsgerichtsbarkeit.
Mathias Schmoeckel ermittelt Aspekte einer Theologie der
Gesetzesinterpretation an Hand von dispensatio als Ausgleich zwischen iustitia,
misericordia und prudentia, während Hans-Georg Hermann den Tyrannenmord als
Rechtsproblem in kanonistischer Wahrnehmung und kanonistischen
Wahrnehmungsdefiziten untersucht und sich David von Mayenburg dem Aufruhr und
der Revolte im kanonischen Recht widmet. Weitere Beiträge stellen die
Verwaltung, die beni delle Piae causae, die fonctions publiques
(Berufsbeamtentum), den acte authentique (Urkundenlehre), die imposizione
tributaria (Auferlegung von Lasten) im spätmittelalterlichen gemeinen Recht und
die Verwaltung der Kirche in den Mittelpunkt. Auf diese Weise erscheint durch
die im Eingang abgelichtete Beiträgergruppe auch für das öffentliche Recht im
engeren Sinne ein buntes interessantes Mosaik neuer Erkenntnisse über den
Einfluss der Kanonistik auf das mittelalterliche öffentliche Recht Europas
(Mehrheitswahlrecht, Berufsbeamtentum, Gesellschaftsvertrag,
Schiedsgerichtsbarkeit, Verwaltungsverfahren, Benefizienverwaltung,
authentische Urkunden u. a.), das durch Indizes der behandelten canones und
leges, der Personen und der Sachen aufgeschlossen wird, das aber naturgemäß ein
vollständiges Bild des in den Blick genommenen Gegenstands nicht bieten kann.
Innsbruck Gerhard
Köbler