Becker, Maximilian, Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939-1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 101). Oldenbourg, München 2014. 343 S., Kart., Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Nach einer kurzen Ära der Militärverwaltung wurde der von der Deutschen Wehrmacht eroberte Teil Polens bereits mit Wirkung vom 26. Oktober 1939 unter zivile Verwaltung gestellt und territorial neu geordnet. Während ein Teil dieses Gebietes als selbständiges Generalgouvernement von Hans Frank geführt wurde, wurden die übrigen Territorien dem Deutschen Reich unmittelbar einverleibt. Zu diesen „eingegliederten Ostgebieten“ zählten fürderhin als größtes der Reichsgau Wartheland unter Arthur Greiser, der Reichsgau Danzig-Westpreußen unter Albert Forster, das der Provinz Ostpreußen unter Erich Koch als Regierungsbezirk Zichenau zugeschlagene nördliche Masowien nebst den Kreisen Soldau und Sudauen sowie die (im April 1941 durch Teilung aus der Provinz Schlesien hervorgehende,) Fritz Bracht unterstellte Provinz Oberschlesien, gebildet von den beiden Regierungsbezirken Oppeln und Kattowitz. Die rechtliche Lage in diesen annektierten Räumen charakterisiert der Verfasser folgendermaßen: „Das Reichsrecht (galt) nicht automatisch, sondern wurde erst nach und nach und nie vollständig in Kraft gesetzt. Diese besondere Rechtslage begünstigte die Massenverbrechen und Vertreibungen. Die Rechtssituation war teilweise verworren, da auch das polnische Recht per se nicht außer Kraft gesetzt wurde. In den einzelnen Gebietskörperschaften hatten zudem die Reichsstatthalter und Oberpräsidenten weitgehende Vollmachten zum Erlass von Rechtsvorschriften, die auch Materien betrafen, die im Altreich einheitlich geregelt waren, wie zum Beispiel im Arbeits- oder Mietrecht. Für die Gerichte hieß das, dass sie vor einer Entscheidung zunächst zu prüfen hatten, welches Recht überhaupt anwendbar war. Während im Strafrecht ein deutlicher Schnitt gemacht und anstelle des polnischen das deutsche Recht angewendet wurde, war in der sehr viel komplexeren Materie des bürgerlichen Rechts das simple Ersetzen der polnischen durch die deutschen Vorschriften nicht möglich. Gleichzeitig wurde während der ersten Besatzungsjahre aber auch nicht gesetzlich bestimmt, wann welches Recht anzuwenden war“ (S. 25f.).

 

Die vorliegende Studie versucht zu klären, welcher Stellenwert der Justiz im Rahmen des wichtigsten Ziels der deutschen Besatzungspolitik, der Germanisierung, zukommt. Zu diesem Zweck bemüht sich Maximilian Becker, „die Gesamtfunktionsweise des Justizapparates und die verschiedenen Felder justiziellen Handelns“, somit „die Organisation der Justiz und die Justizverwaltung, die Personalpolitik und das Personal, die Zivilgerichtsbarkeit, die Strafjustiz und de[n] Strafvollzug“, im Netzwerk der allgemeinen Besatzungsgeschichte aus einer an der Institution orientierten Perspektive zu erfassen. Dieses ambitionierte, manchen Widrigkeiten der Quellenlage trotzende Projekt (die Arbeit kann sich zwar auf keinen geschlossenen Bestand stützen, berücksichtigt aber eine große Vielfalt von Unterlagen des Reichsjustizministeriums, der zuständigen Gerichte, Staatsanwaltschaften und Haftanstalten, wie Verfügungen und Berichte, Einzelfallakten und Personalunterlagen, aber auch juristische Kommentarliteratur und Vorgänge zu den Nachkriegsermittlungen diverser Behörden) widmet sich abschließend darüber hinaus dem weiteren Werdegang der verantwortlichen „Justizjuristen“ nach Kriegsende und einem Vergleich der Justiz der eingegliederten Ostgebiete mit anderen Ausformungen nationalsozialistischer Besatzungsjustiz in Europa sowie mit der sowjetischen Justiz in Ostpolen.

 

Das Rechtsdenken, an das die Justiz in den eingegliederten Ostgebieten anschloss, war nicht mehr das des liberalen Rechtsstaates von Weimar, sondern ein bereits über Jahre nationalsozialistisch überformtes, von den Hierarchievorstellungen der rassistischen völkischen Ideologie geprägtes. Den aus dieser Tatsache ableitbaren Schluss, der Justizapparat habe neben anderen Institutionen ergänzend als ein wirksames und willfähriges Mittel zur Durchsetzung der Ziele nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik agiert, bestätigt die Studie im Detail. Schon in Fragen der für die NS-Machtausübung als zweitrangig betrachteten Zivilgerichtsbarkeit – vorrangig der Enteignung polnischen und jüdischen Gutes mit dem Ziel, „so viel Vermögenssubstanz wie möglich für den NS-Staat zu sichern“ (S. 114), der Aufhebung deutsch-polnischer Mischehen oder der Germanisierung polnischer Kinder durch Sorgerechtsentzug – arbeiteten sowohl Görings Haupttreuhandstelle Ost (HTO) als auch „die Siedlungsbehörden des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums (RKF) – und das ist nicht nur für das Verhältnis von Justiz und SS in den eingegliederten Ostgebieten, sondern im Nationalsozialismus allgemein relevant – Hand in Hand mit der Justiz, ohne in ihren Kompetenzbereich einzugreifen oder bei den Enteignungen das NS-Recht zu brechen. Auch zwischen SS und Justiz, die in der Forschung meist als Antipoden dargestellt werden, war aufgrund gemeinsamer Ziele und ähnlicher Interessen eine Zusammenarbeit möglich“ (S. 140). Bedingt durch die vorhin angesprochene, durch eine fehlende gesetzliche Regelung des Zivilrechts zunächst verworrene Rechtslage sollten die Richter, durch Lenkung von oben angeleitet, bei polnischen oder jüdischen Prozessparteien in Anlehnung an das deutsche Recht „in ‚freier Rechtsschöpfung‘, also letztlich ohne gesetzliche Grundlage, zu einem Urteil gelangen“ (S. 118); die Ostrechtspflegeverordnung vom 25. 9. 1941 – sie habe nach Becker durch das Weisungsrecht der Reichsstatthalter und Oberpräsidenten für die Rechtspflege „als einzige Norm des NS-Staates das Ideal einer völlig gesteuerten Justiz“ erreicht - „schrieb dieses Prinzip der ‚sinngemäßen Anwendung‘ definitiv fest und bestätigte „die Möglichkeit zur Abweichung von geltendem Recht, wenn dies zur Diskriminierung der polnischen Prozesspartei erforderlich würde“ (S. 121f.).

 

Auf dem wesentlich bedeutsameren Feld der als Teil des Repressionsapparates agierenden Strafgerichtsbarkeit bestätigte die Verordnung über die Einführung des deutschen Strafrechts in den eingegliederten Ostgebieten vom 15. Juni 1940 ebenfalls die Praxis der sinngemäßen Anwendung und „enthielt in den ‚besonderen Strafvorschriften‘ erstmals kodifiziertes Sonderrecht für die polnische und jüdische Bevölkerung“. Die Polenstrafrechtsverordnung vom Dezember 1941 ergänzte sie um zentrale Bestimmungen, die „Forderungen von Richtern und Staatsanwälten der Ostgebiete (erfüllten), öfter auf die Todesstrafe erkennen zu können“: Während eine erste Generalklausel eine allgemeine Gehorsamspflicht für die polnische und jüdische Bevölkerung gegenüber deutschen Gesetzen und Anordnungen deutscher Behörden normierte, sah eine zweite für die Schädigung des Ansehens oder des Wohls des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes als Regelstrafe die Todesstrafe vor. Zudem war die Verhängung der Todesstrafe für jedes Delikt vorgesehen, „wenn die Tat von besonders niederer Gesinnung zeugt oder besonders schwer ist“, womit die Vorschrift es „alleine den Richtern anheim(stellte), polnische Angeklagte auch wegen einer Bagatelle zum Tode zu verurteilen“ (S. 166ff.). Im Ergebnis verurteilten deutsche Gerichte in den eingegliederten Ostgebieten „in nur wenigen Jahren etwa 5000 Menschen zum Tode, bei mindestens 4500 wurde die Todesstrafe vollstreckt. 5500 bis 6000 Verurteilte gingen in den Justizvollzugsanstalten an den Haftbedingungen, Hunger, Krankheit und den Folgen der Schwerstarbeit zugrunde. Hinzu kamen diejenigen, die vor oder nach Ende ihrer Haftzeit an die Polizei überstellt, in die Konzentrationslager verschleppt wurden und dort starben. Die meisten Opfer dieser Justiz waren Polen. Sie wurden vor Gericht diskriminiert, öfter zum Tode verurteilt und erhielten im Schnitt längere Haftstrafen als Deutsche“ (S. 291). Weder unter anderen NS-Besatzungsgerichtsbarkeiten noch unter der Sowjetjustiz in Ostpolen „wurden in so kurzer Zeit so viele Menschen zum Tode verurteilt wie hier“ (S. 304). Und doch habe es sich – so der Verfasser – ungeachtet dieser Zahlen um „keine reine ‚Blutjustiz‘“ gehandelt: „Wie im Altreich wurden die meisten Angeklagten – Polen, Juden und Deutsche – zu Haftstrafen verurteilt. Die Freispruchquote war dabei erstaunlich hoch“ (S. 295).

 

Die bewusste Einbindung der in der Forschung nicht selten als den Machthabern unerwünscht abqualifizierten Justiz in das NS-Herrschaftssystem habe sehr wohl einen realen Zweck verfolgt, indem sie es ermöglicht habe, Urteile propagandistisch zu verwerten, politische Entscheidungen zu legitimieren, die Systemkonformität der Juristen sicherzustellen und die Herrschaft durch die Verfolgung politischer Gegner und der Kriminalität zu stabilisieren. Demgegenüber sei ihre Bedeutung „in der Germanisierungspolitik […] vergleichsweise gering“ zu veranschlagen (S. 301). Entgegen älteren Forschungen, welche die durch die polykratische Struktur der NS-Behörden hervorgerufenen Kompetenzkonflikte in den Vordergrund gerückt haben, betont Maximilian Beckers differenziert argumentierende Arbeit - hierin jüngere Forschungspositionen bestätigend - immer wieder das verhältnismäßig glatte, sich ergänzende Zusammenwirken der Institutionen auf dem Boden der gemeinsamen NS-Ideologie: Das Verhältnis von Justiz und Polizei sei, wie auch jenes zu den Germanisierungsbehörden (HTO, RKF), „weitgehend von Kooperation geprägt“ gewesen, die Zusammenarbeit mit der Wehrmacht verlief „im Großen und Ganzen reibungslos“, Eingriffe der Partei „hielten sich über die ganze Besatzungszeit hinweg in Grenzen“ (S. 297ff.). In die Irre führe somit auch ein allzu schablonenhaftes Verständnis der Doppelstaat-Theorie Ernst Fraenkels, das „eine permanente Gegnerschaft von Justiz und Polizei annimmt, die Gerichte häufig als ‚Hüter des Normenstaates‘ wahrnimmt“ und dabei „einerseits die Rolle der Justiz bei der Demontage des Rechtsstaats unterschlägt, andererseits aber auch die Polizei zu einer reinen Willkürmacht abstempelt und so von der Kooperation zwischen beiden Verfolgungsorganen ablenkt. […] Selbst die Gestapo […] half dabei, das nationalsozialistische Rechtssystem aufrechtzuerhalten. […] Hinsichtlich der Ungleichbehandlung ist zu konstatieren, dass sie im polizeilichen Ermittlungsverfahren anscheinend deutlich weniger ausgeprägt war als vor Gericht“ (S. 164).

 

Nennenswerte Bedenken der Justizjuristen, nationalsozialistisches Recht anzuwenden, scheint es kaum gegeben zu haben. Ohne den Rechtspositivismus namentlich zu erwähnen, vermutet der Verfasser als Grundvoraussetzung für diese Haltung die „Juristenausbildung der Zwischenkriegszeit […], denn dort verinnerlichte der Nachwuchsjurist, dass er im Interesse des eigenen Fortkommens sich strikt nach dem jeweils geltenden Gesetz und nach der herrschenden Meinung zu richten habe“ (S. 103). Ideologische Indoktrination, Standesdünkel, die mit provisorischen Dienstverhältnissen verknüpfte Unsicherheit des Arbeitsplatzes, das brutale Besatzungsumfeld, Leistungsdruck, Arbeitsüberlastung und ein einseitiges Freizeitangebot mögen im Osten als Radikalisierungsfaktoren zusätzlich wirksam geworden sein.

 

Eine besondere Würdigung verdient der Umstand, dass Maximilian Becker in seine Untersuchung nicht nur die gängige deutsche, sondern Fachliteratur auch in polnischer Sprache studiert und eine Reihe polnischer Archive durchforstet hat. Neben dem Deutschen Historischen Institut in Warschau waren das Internationale Max-Planck-Forschungskolleg für vergleichende Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main sowie das Institut für Europäische Geschichte in Mainz weitere Stationen dieser Arbeit, die, von Dieter Pohl betreut, in der Grundfassung 2011/2012 als Dissertation im Fach Neuere und Neueste Geschichte von der Universität München approbiert worden ist. Dass sich in der Grammatik einige störende Fehler eingeschlichen haben, ist bedauerlich, wiewohl für den Text ohne inhaltliche Relevanz.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic