Winkler, Viktor, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft - Franz Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ und die deutsche Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Rechtswissenschaft 313). Kovač, Hamburg 2013. XII, 607 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nach der im Anhang der unfangreichen Arbeit angefügten biographischen Tabelle wurde der aus einer protestantischen Familie am Niederrhein (Bauern in Beeck bei Duisburg, Großvater Lehrer) stammende Franz Wieacker in Stargard (Stargard Szczeciński in Polen) am 5. August 1908 als Sohn des in diesem Jahre ernannten, der NSDAP am 1. Mai 1933 mit der Nummer 2574654 beigetretenen Richters Franz Wieacker geboren, studierte nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Stade und dem in Celle mit 17 Jahren abgelegten Abitur in Tübingen vom Sommersemester 1926 bis Sommersemester 1927, in München im Wintersemester 1927/1928 und in Göttingen vom Sommersemester 1928 an Rechtswissenschaft, legte im Juli 1929 die erste juristische Staatsprüfung mit Auszeichnung ab, begann die praktische juristische Ausbildung (Juni 1932 beurlaubt, bis 31. 12. 1936 Beurlaubung verlängert, Ausbildung nie mit zweiter Staatsprüfung abgeschlossen), wechselte am Ende des Jahres 1929 mit dem aus einer jüdischen Fabrikanten- und Gutseigentümerfamilie in Schlesien stammenden 47jährigen Fritz Pringsheim (1882-1967) nach Freiburg im Breisgau (, wo auch Claudius von Schwerin und Andreas Bertalan Schwarz lehrten), wurde 1930 Assistent, wurde am 18. Dezember 1930 auf Grund einer Dissertation über (Lex commissoria) Erfüllungszwang und Widerruf im römischen Kaufrecht summa cum laude promoviert, ging im Mai und Juni 1931 für einen Studienaufenthalt nach Palermo, veröffentlichte einen ersten Aufsatz in der Romanistischen Abteilung der Zeitschrift für Rechtsgeschichte, lehnte das Angebot einer ordentlichen Professur in Königsberg ab, war von Oktober bis Dezember 1932 in Rom und wurde 17 Tage nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler des Deutschen Reiches am 16. Februar 1933 mit der von Pringsheim betreuten Schrift (Societas) Hausgemeinschaft und Erwerbsgesellschaft - Untersuchungen zur Geschichte des römischen Gesellschaftsbegriffs (Druck 1936) mit 25 Jahren habilitiert, wobei sich sein öffentlicher Habilitationsvortrag mit dem Recht der öffentlichen Rundfunksendung befasste. Im Sommersemester 1933 vertrat der mit einem Freiburger Privatdozentenstipendium Gestützte (den „beurlaubten“ Andreas Bertalan Schwarz) in Freiburg im Breisgau, im Wintersemester 1933/1934 in Frankfurt am Main (unter Teilnahme am Wissenschaftslager in Todtnauberg bei Freiburg im Breisgau im November 1933), im Wintersemester 1933/1934 in Freiburg im Breisgau, im Wintersemester 1934/1935 in Frankfurt am Main, erhielt vom Sommersemester 1935 bis Wintersemester 1936/1937 einen Lehrauftrag in Kiel (Mai 1935 Teilnahme am Dozentenlager in Kitzeberg, Oktober 1936 Teilnahme am Dozentenlager in Bad Elster) und wurde nach Ablehnung von Rufen aus Kiel und Berlin zum 1. Januar 1937 außerordentlicher Professor in Leipzig sowie nach Eintritt in die NSDAP (1. Mai 1937) zum 1. Mai 1939 auf dem Lehrstuhl Ludwig Mitteis’ ordentlicher Professor in Leipzig. Nach Einzug zur Artillerie 1939, Zurückstellung, einem Ruf nach Straßburg (1941), einem Ruf nach Berlin (1942), erneutem Einzug zur Wehrmacht (1944), Kriegsgefangenschaft in Italien (Sommer 1945), Lehraufträgen in Göttingen (Wintersemester 1945/1946 bis Sommersemester 1947), Abschluss des Entnazifizierungsverfahrens (Juni 1947, Mitläufer), Ruf nach Göttingen (September 1947, abgelehnt 1949), Vertretung Fritz Pringsheims in Freiburg im Breisgau (Wintersemester 1947/1948-Sommersemester 1948), Gastprofessur Freiburg im Breisgau, Ruf nach Freiburg im Breisgau (September 1948) und Lehrstuhlvertretung in Göttingen (Wintersemester 1948/1949) wurde er 1949 ordentlicher Professor in Freiburg im Breisgau und nach Veröffentlich (der ersten Auflage) seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952) 1953 auf dem früheren Lehrstuhl Rudolf von Jherings ordentlicher Professor in Göttingen, wo er wenige Jahre nach Erscheinen der zweiten Auflage der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967) im Jahre 1973 mit 65 Jahren (zwecks Übernahme neuer Aufgaben durch jüngere und frischere Kräfte und Konzentration auf ein Handbuch) vorzeitig emeritiert wurde und am 17. Februar 1994 starb.

 

Dieses wechselvolle erfolgreiche Leben eines als Wunderkind bezeichneten Gelehrten hat der in Frankfurt am Main und in Harvard ausgebildete, nach der zweiten juristischen Staatsprüfung zunächst für eine internationale Anwaltssozietät im Bereich Public Affairs/Regulatory sowie das auswärtige Amt in Berlin und danach für Bird & Bird tätige Verfasser in seiner auf ein im ersten Semester an dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main (wohl mit Günter Frankenberg, Klaus Günther und Gunther Teubner) entstandenes Unbehagen darüber, dass gewisse Bücher als Standardwerke gelten sollten (und andere nicht) zurückgehenden, von Joachim Rückert zwar nicht angeregten, aber wohl mit beispiellosem Interesse und Engagement begleiteten, im Gefühl, dass alles möglich ist, und in wehmütiger Erinnerung an jugendliche, für die Eltern nicht immer leichte Frechheit geschriebenen, im Wintersemester 2012/2013 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main angenommenen Dissertation in seinen Eckdaten bewusst im Anhang konzentriert. Vorrangig hat ihn der Hintergrund der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit Franz Wieackers interessiert. Ihm hat er sich gedankenreich, eigenständig und weiterführend gewidmet.

 

In seiner kurzen Einleitung über den Gang seiner Darstellung, den bisherigen Forschungsstand und die veröffentlichten Quellen (erste Auflage der Privatrechtsgeschichte, sonstige Schriften Wieackers) sowie die (trotz Archivsperre bis 2024) ihm zugänglichen unveröffentlichten Quellen benennt der Verfasser als seine erkenntnisleitenden Fragen erstens: Enthält das Buch eine bestimmte Geschichtserzählung und wenn ja, worin besteht sie? Woher stammt zweitens diese Geschichtserzählung und welches waren ihre Einflüsse bei Wieacker? Welche Folgen hatte drittens diese Geschichtserzählung für Wieackers Feststellungen zu Methodenlehre und Rechtsdogmatik?

 

In seinem ersten Teil behandelt der Verfasser in vielfältigem Ausgriff unter dem Gesichtspunkt des Selbstverständnisses Anlage, Natur und Ziel des Buches. Hieraus ermittelt er insgesamt eine Geschichtserzählung. Danach sind Formalismus und Rationalismus, ob in Gestalt des Positivismus oder des Naturalismus, verheerende Methodenrichtungen, während Anstrengungen gelobt werden, die Anschaulichkeit und Wirklichkeitssättigung zurückzubringen, die in der behandelten Zeit zwischen dem Frühmittelalter oder Hochmittelalter und der Gegenwart nur der germanische (oder germanistische) Typ des Rechtsdenkens hatte. Dies wirkt sich in der Folge seit den Glossatoren zu Lasten der Methodenlehre der Rechtswissenschaft und etwa zu Gunsten Beselers, Gierkes, Mengers und einiger Teile der Rechtsprechung nach 1900 aus.

 

Der zweite Teil befasst sich mit den Wurzeln der „Geschichte“ Wieackers und ihrer Rechtswerte. Im Beginn stehen dabei die Freiburger Prägung Wieackers durch Fritz Pringsheim, Andreas Bertalan Schwarz, Hermann Kantorowicz und der Einfluss Max Webers und seiner Vorstellungen von Idealtypus, Wirklichkeitswissenschaft und Wertfreiheit. Danach behandelt der Verfasser die Entstehung der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit im Dritten Reich mit der nicht vollständig geklärten so genannten Eckhardtschen Studienreform von 1935, der vermutlich doch nicht so bedrängten Lage des römischen Rechtes nach 1933 mit den unterschiedlichen Lösungsvorschlägen Koschakers, Kasers, Schönbauers, Krellers, Wieackers und Coings, den möglichen Vorbildern in der Kieler Schule (mit Ernst Rudolf Huber, Karl Michaelis’ Wandlungen des Rechtsdenkens von 1935, Georg Dahms Werken von 1943 und 1944), den Methodengeschichten und dem Kampf gegen den Positivismus (Carl Schmitt, Hans Thieme, Franz Beyerle) sowie die Rechtswissenschaft als Entfremdung vom Recht (Hans Welzel) und der Aufgabe zu Rückwegen zur Gerechtigkeit.

 

Der dritte Teil untersucht die Folgen der Geschichte Wieackers. Dabei behandelt der Verfasser einerseits die Rechtsdogmatik mit dem Mittelpunkt Eigentum und Kampf gegen das Bürgerliche Gesetzbuch bis 1945 im Vergleich zu den dogmatischen Arbeiten nach 1945. Andererseits wird die Methodenlehre bei Wieacker vor 1945 mit der Methodenlehre nach 1945 verglichen.

 

Im abschließenden vierten Teil versucht der Verfasser zwei Bilanzen. In ihnen geht er einerseits auf das Zusammentreffen von nationalsozialistischer Herrschaft mit der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit Franz Wieackers ein und betrachtet Wieackers Verhalten im „Dritten Reich“, das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer von 1935, den Kieler Kreis in Kiel, Göttingen, Leipzig, Straßburg und wieder Göttingen, eine Stellungnahme des SD von 1942, die politische Widerstandsfähigkeit der Romanistik in dieser Zeit und schließlich das „Dritte Reich“ als die Formationsphase der 1952 erstmals veröffentlichten Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Anderseits stellt er die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen die Rechtswissenschaft nach 1945 an Hand der Methodik für Studienanfänger 2010, der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit nach 1945, der Auswirkungen nach 1968 (Dieter Grimm, Larenz, Canaris, Verfassungsrecht, Schuldrechtsreform) und der Gegenwart dar.

 

Insgesamt verzeichnet das kurze abschließende Personenregister 34 Namen (darunter Franz Beyerle, Helmut Coing, Georg Dahm, Karl August Eckhardt, Ernst Rudolf Huber, Rudolf von Jhering, Hermann Kantorowicz, Max Kaser, Hans Kelsen, Paul Koschaker, Karl Larenz, Karl Marx, Karl Michaelis, Ludwig Mitteis, Fritz Pringsheim, Carl Friedrich von Savigny, Carl Schmitt, Andreas Bertalan Schwarz, Claudius von Schwerin, Hans Thieme, [Christian] Thomasius, Max Weber und Hans Welzel). An ihnen und mit ihnen hat sich Franz Wieackers erfolgreiche Privatrechtsgeschichte der Neuzeit geformt. So aufschlussreich die wichtigen und interessanten, überwiegend kritischen Hinweise in der überzeugenden, spannenden Abhandlung des Verfassers auch sind, so wenig werden sie voraussichtlich den Erfolg des größtenteils bewunderten Standardwerks eines unermüdlichen vielseitigen, sowohl konstanten und selbständigen wie aber auch aufnahmebereiten und wandlungsfähigen berühmten Gelehrten wirklich beeinflussen können.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler