Ullrich, Volker, Adolf Hitler. Biographie. Band 1 Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 1083 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Einer unablässig vorangetriebenen Forschung zum Nationalsozialismus ist es zu verdanken, dass heute mehr denn je Details über diese Periode der deutschen Geschichte bekannt geworden sind. Mit diesem Zuwachs an Wissen zwangsläufig einher geht auch eine stete Modifizierung des Blinkwinkels auf die Person Adolf Hitlers. Es nimmt daher nicht wunder, dass in regelmäßigen zeitlichen Abständen immer wieder neue Hitler-Biographen ihr Glück versuchen und diese wohl in der Geschichte der Menschheit ob des Ausmaßes der von ihr zu verantwortenden Untaten einzigartig dastehende Gestalt mit unterschiedlichen Akzenten sezieren. Zumindest fünf dieser Lebensbeschreibungen haben unbestritten größere Resonanz gefunden: das noch zeitgenössische Frühwerk aus der Feder des Pressekorrespondenten Konrad Heiden (1936/1937), die Arbeit des britischen Historikers Alan Bullock (1952), die Hitler als opportunistischen Machtpolitiker interpretiert, die aus der Literatur gearbeitete Darstellung des Journalisten Joachim C. Fest (1973), die ihn in seiner merkwürdigen Mischung zwischen Rückwärtsgewandtheit und Modernität in die Eigenart seiner Epoche einzuordnen sucht, die beiden Hitler-Bände des US-Amerikaners John Toland (1976) und schließlich zuletzt Ian Kershaws ebenfalls zweibändige quellengesättigte Studie (1998/2000), die das Wechselspiel zwischen Hitlers Intentionen und einer ihm pflichteifrig zuarbeitenden, in der deutschen Gesellschaft breit verankerten Gefolgschaft mit dem Ergebnis einer fortlaufenden Radikalisierung des Systems betont.

 

Nun wagt sich mit dem promovierten Historiker und erfahrenen Journalisten Volker Ullrich ein Mann an diese Aufgabe, der mit seinem Standardwerk „Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1914“ (1997) in der Fachwelt bereits einige Aufmerksamkeit erregen konnte. Aufbauend auf die Erkenntnisse der vorhin genannten großen Biographien sollen unter Einarbeitung des aktuellen Stands der Forschung zum Nationalsozialismus „die Persönlichkeit Hitlers, die in Kershaws Darstellung bemerkenswert blass bleiben musste, wieder in den Mittelpunkt gerückt werden“ und „einige Annahmen, die sich fast durch die gesamte Hitler-Literatur ziehen, auf den Prüfstand gestellt (werden)“. So solle „der ‚merkwürdige Rollencharakter‘ von Hitlers Existenz […] als ein Leitmotiv der Darstellung entfaltet“, seine eminente politische Begabung dargelegt, seine Privatsphäre stärker ausgeleuchtet und Einsichten in seine „eigentümlichen Anlagen und Verhaltensweisen gewonnen werden“ (S. 14ff.). Ullrichs Werk kann und will „keine völlig neue Deutung“ anbieten, sondern verfolgt das Ziel, „den Hitler-Mythos, der als negative ‚Faszination durch das Monstrum‘ in der Literatur und öffentlichen Diskus[s]ion nach 1945 in vielfältiger Weise nachwirkte, zu dekonstruieren“, Hitler werde „in gewisser Weise […] ‚normalisiert‘, was ihn jedoch nicht ‚normaler‘, sondern im Gegenteil noch abgründiger erscheinen“ lasse; dabei werde „immer ein unerklärbarer Rest bleiben“ (S. 20f.).

 

Der vorliegende Band erfasst die ersten 50 Lebensjahre des Diktators, die sechs verbleibenden (Kriegs-)Jahre sind dem Folgeband vorbehalten; im Gegensatz zu Kershaw, für den das Jahr 1936 die Trennlinie bildet, verlegt sie Volker Ullrich auf den Kriegsbeginn 1939. Seine 21 Kapitel folgen nicht nur der Chronologie der Ereignisse, sondern sind auch, dem theoretischen Konzept des Verfassers geschuldet, themenzentriert angelegt, wie Kapitel 10 (Hitler und die Frauen), Kapitel 13 (Der Mensch Hitler) oder Kapitel 18 (Die Berghof-Gesellschaft). Führerkult und Volksgemeinschaft, Herrschaftsstil und Monumentalarchitektur finden in dieser Arbeit ebenso ihre gesonderte Betrachtung wie der Kampf des Nationalsozialismus gegen die Kirchen, die Radikalisierung der Judenpolitik oder der Weg in den Zweiten Weltkrieg.

 

Das mit insgesamt 69 Abbildungen in Schwarzweiß illustrierte Werk hat bisher eine geteilte Aufnahme erfahren. Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht Lorenz Jäger („Das Monstrum kam aus der Mitte der Gesellschaft“, 12. 10. 2013) von einem „meisterliche(n) Buch“, wenngleich er das Leitmotiv von Ullrichs Darstellung, Hitlers Verstellungskunst, zwar in der Beschreibung als „evident“, aber „als Theorie eher dünn“ beurteilt. Als besonders fruchtbar hebt Jäger die Anknüpfung des Verfassers an Ludolf Herbsts („Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias“, 2010) These hervor, der Joachim C. Fests implizite Bezugnahme auf Misslungenes in Hitlers Jugend umdreht: „Sinnlos wäre es, die Auszeichnungen wegdisputieren und dekonstruieren zu wollen […]. Von Wagner prägte sich ihm die Kunst der Inszenierung ein, aus dem Männerheim aber die Lage der unteren Schichten, deren Sprache und Gedanken er verstand wie kein anderer Politiker seiner Zeit. […] Ullrich kann nachweisen, wozu Hitler während des Ersten Weltkriegs den Genesungsurlaub in Berlin nutzte: zum Besuch der Museen. Mit der These der Unkultur kommt man nicht weiter, vielmehr war es Kultur, energisch und autodidaktisch-fragmentarisch erworben […], die seine Gedanken bestimmte - bis in die gespenstischen Szenen im Bunker Anfang 1945, als er sich die Architekturmodelle für das künftige Linz zeigen ließ“. Wesentlich kritischer eingelassen hat sich Thomas Weber („Hitler - eine böse Bildungsgeschichte“, 14. 10. 2013), der dem Verfasser in seiner harschen Schelte die Aneignung fremder Ideen ebenso vorwirft wie einen unbedachten Umgang mit den Quellen und Inkonsequenz in seinen Schlussfolgerungen: Er, Weber, habe in seiner Schrift „Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit“ (2011) Ullrichs vorgeblich originäre Kernthese von der permanenten Selbststilisierung und Selbsterfindung Hitlers, ebenso wie dessen Suche nach einer Ersatzfamilie, längst vorweggenommen. Auch zu den Ursprüngen von Hitlers Judenhass bringe Ullrichs Biographie keine neuen Erkenntnisse, sondern übernehme lediglich die Ergebnisse anderer Forscher. In seinem Bestreben, Hitler als der Mitte der Gesellschaft entspringend darzustellen, vermeide der Verfasser zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der umstrittenen Lehrmeinung Ernst Noltes, der einst den Nationalsozialismus als Reaktion auf die Bedrohung durch den Bolschewismus gedeutet hat. Und, nachdem er Hitler als Meister des Verstellens und Verbergens dargestellt habe, ziehe er den völlig paradoxen Schluss: „Vieles kann man Hitler vorwerfen, nur eines nicht: dass er seine wahren Absichten jemals verheimlicht hätte“. Abgesehen davon, dass der Artikel ein ziemlich getrübtes Verhältnis zwischen den beiden Forschern erkennen lässt - offenbar hat Ullrichs Arbeit Webers wissenschaftliches Ego grob verletzt -, wird man Ersterem zugute halten dürfen, dass er sehr wohl die inkriminierten Arbeiten zitiert. Was Hitler angeht, so schließen sich die schonungslose Offenlegung politischer Ziele (an deren Ernsthaftigkeit mancher gerade ihrer Radikalität wegen nicht glauben mochte) und verschleierndes Taktieren, Täuschung und Verstellung im konkreten politischen Alltag - beispielsweise in den Ränkespielen um die Kanzlerschaft - mitnichten aus. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es nicht die Aufgabe einer Biographie sein kann, theoretische Diskussionen auszubreiten und jeden Einzelaspekt neu zu untersuchen; dies obliegt Spezialstudien, die der Verfasser im Übrigen in umfassender Weise und bis in die unmittelbare Gegenwart berücksichtigt hat.

 

Es liegt eine gewisse Paradoxie darin, dass gerade der Kenner der Materie und eingelesene Kritiker mit einer besonderen Erwartungshaltung an Werke der vorliegenden Art herantritt, obwohl gerade diesem bewusst sein muss, dass eben über den allgemeinen Forschungsstand hinaus keine Sensationen zu erwarten sind. Kleine Überraschungen finden sich allemal; so wird mancher, der das Bild des polternden Diktators vor sich hat, von der Vorstellung eines die Arme in Dirigentengesten schwingenden, die „Meistersinger“ pfeifenden (S. 138), sein Vorbild Benito Mussolini gestisch wie sprachlich veräppelnden oder seine eigenen Kriegserlebnisse mittels Lautimitation darstellenden Hitler (S. 429) ein wenig irritiert sein, und auch die landläufige Vorstellung vom Stegreifredner entspricht nicht den Tatsachen (S. 113). Hitlers „stupendes Gedächtnis“ wiederum, so wird gesagt, lasse erkennen, dass er „offenkundig die Gabe des eidetischen Sehens, das heißt die Fähigkeit, Wahrnehmungsbilder fotografisch zu speichern, (besaß)“ (S. 430), neben seinem „scharfen Blick für die Schwächen und Defekte anderer Menschen, die er für seine Zwecke auszunützen verstand“ (S. 441). Schön arbeitet der Verfasser immer wieder die Genese des Nimbus um Hitlers Persönlichkeit heraus, eine Spirale, die ihre Dynamik aus der ständigen Wechselwirkung zwischen dem selbst empfundenen Sendungsbewusstsein und der Erwartungshaltung einer gläubigen Jüngerschaft bezieht (S. 235). Wichtigste Kriterien bei der Auswahl seiner Mitarbeiter waren ihm „absolute Loyalität, Diskretion und unbedingte Unterordnung unter seine Autorität“ (S. 441), Eigenschaften, wie sie beispielsweise Rudolf Heß und Joseph Goebbels eigneten. Menschen, die ihn „aus kritischem Abstand und den Maßstäben der Vernunft betrachteten und beurteilten“ (S. 245), waren ihm hingegen immer suspekt.

 

Obwohl sich Hitler den Quellen zufolge offenbar persönlich niemals völlig geöffnet zu haben scheint, dienten ihm „mehrere private Kontaktkreise“ als „eine Art Familienersatz“ (S. 438): die Hoffmanns in München, das Haus Wagner in Bayreuth und die Familie seines Propagandaministers Goebbels in Berlin. Für seine Ideologie gelte: „So flexibel Hitler über sein Rollenrepertoire […] gebieten konnte, so starr sollte er auch als Reichskanzler an den ideologischen Fixierungen festhalten, die sich seit den frühen zwanziger Jahren bei ihm zu einer geschlossenen ‚Weltanschauung‘ verfestigt hatten. Dazu gehörte in erster Linie sein fanatischer, rassisch motivierter Antisemitismus, aus dem er die Notwendigkeit nach einer ‚Entfernung‘ der Juden aus Deutschland ableitete, und sein über die Revision von Versailles hinausgehender aggressiver Expansionismus, in dessen Zentrum die Forderung nach Eroberung von ‚Lebensraum im Osten‘ stand“ (S. 428). Die tatsächliche Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 erwies sich für diese als ausgesprochener Glücksfall in einer Phase, in der dieses Ziel ob der scheinbar unflexiblen Haltung Hitlers wieder in die Ferne zu rücken schien, und war keineswegs eine unausweichliche Notwendigkeit; von den Zeitgenossen im Inland und Ausland wurde ihre tiefgreifende Bedeutung weitgehend verkannt: Viele Deutsche reagierten auf das Ereignis „offenbar ziemlich gleichgültig […]. Dreimal hatte die Regierung im Laufe des Jahres 1932 gewechselt, man hatte sich daran schon fast gewöhnt. In den Wochenschauen der Kinos wurde die Vereidigung des neuen Kabinetts als letzter Beitrag gebracht, nach den sportlichen Großereignissen. […] Für die meisten ausländischen Diplomaten markierte der 30. Januar […] keine fundamentale Zäsur“ (S. 415f.). Bald sollten sie eines Besseren belehrt werden: „Was machttaktische Gerissenheit, kombiniert mit notorischer Unaufrichtigkeit, anging, erwies sich Hitler seinen Mit- und Gegenspielern im Kabinett als turmhoch überlegen. […] So brauchte Hitler nur achtzehn Monate, bis er alle Konkurrenten um die Macht ausgeschaltet und seine Führerdiktatur errichtet hatte“ (S. 458f.). Mit Sicherheit liegt in seiner fortwährenden Unterschätzung eine wichtige Wurzel für den Aufstieg des NSDAP-Chefs.

 

Wenn sich auch die letzten Abgründe in Hitlers Wesen einem endgültigen Zugang weiterhin verschließen, in Summe, und darauf kommt es an, erscheint Volker Ullrichs Hitler-Bild trotz der einen oder anderen Kritik am Detail überzeugend und glaubwürdig. Vielleicht liegt die Stärke dieses ersten Bandes gerade in seiner Nähe zur Lebenswirklichkeit und in der Absenz eines allzu dominanten, vorab übergestreiften und verzerrend wirkenden theoretischen Konzepts begründet. Gestützt auf eine überraschende Fülle leicht greifbarer, aber bisher kaum ausgewerteter Quellenbestände (so die Nachlässe Gottfried Feder, Ernst Hanfstaengl, Albert Speer und Rudolf Heß, die unveröffentlichten Erinnerungen Gustav Ritter von Kahrs oder ein Konvolut zu privaten Ausgaben Hitlers zwischen 1930 und 1933) und fernab der artifiziellen Sprache Joachim C. Fests wird hier in vergleichsweise schlichten, eingängigen Worten der Werdegang eines Menschen dargestellt, dessen Entwicklung nicht auf eine genuin deviante Veranlagung zurückgeführt, sondern einer durch bestimmte individuelle und historische Konstellationen verursachten, verhängnisvollen ideologischen Prägung in Verbindung mit ganz spezifischen, dieser Person eigenen Wesensmerkmalen zugeschrieben wird. Nachdem sich eine ideologische Disposition ähnlicher Art mehr oder minder auch im Profil zahlreicher Zeitgenossen ausmachen lässt (schon deshalb kann diese Hitler-Interpretation niemanden von Verantwortung freisprechen), haben wohl seine von vielen Gegnern oft unterschätzten individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften den entscheidenden Ausschlag gegeben, dass Hitler sich letztendlich gegen alle Konkurrenten durchsetzen und seine Überzeugungen mit Beihilfe einer breiten Gefolgschaft so weitgehend und in derart katastrophalen Dimensionen verwirklichen konnte. Sein Aufstieg scheint daher weder ein „Betriebsunfall“ noch unausweichliche Bestimmung gewesen zu sein: „Man kann ihn nicht einfach entsorgen als Ungeheuer, das aus unbekannten Tiefen über die Deutschen kam wie Godzilla“, urteilt wortgewaltig Lorenz Jäger. Der „Führer“ kam wohl tatsächlich aus der Mitte der Gesellschaft, und diese nicht ganz neue, ebenso naheliegende wie beunruhigende Erkenntnis mag der beste Garant dafür sein, dass ein Ende des wissenschaftlichen Diskurses um das Phänomen Hitler weiterhin nicht absehbar ist.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic