Reichel, Peter,
Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung. Nationalsymbole in Reich und
Republik. Wallstein, Göttingen 2012. 381 S., Ill. Besprochen von Werner
Augustinovic.
Nationalsymbole bringen gemeinhin die spezifische Eigenart einer Nation sinnlich erfahrbar zum Ausdruck und stiften in dieser Funktion idealer Weise Identität. Was als Nationalsymbol Anerkennung findet, hängt entscheidend vom Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft ab. Je vielfältiger sich die politisch-historische Entwicklung einer Nation darstellt, desto umfangreicher ist auch die Zahl ihrer konkurrierenden Symbole, und die gegenwärtig gesellschaftlich dominierenden Werthaltungen bestimmen die Auswahl, was zur Repräsentation dieser Werte tauglich und was kraft historischer Belastungen ungeeignet, weniger geeignet oder adaptierungsbedürftig erscheint. So haben beispielsweise Argumente des Gender Mainstreaming eine Änderung des Textes der österreichischen Bundeshymne dahingehend erwirkt, dass neben die „großen Söhne“ nun auch die „Töchter“ getreten sind. Ebenso zur Diskussion gestellt wurde, wenn auch aus anderen Gründen, der Wortlaut der steiermärkischen Landeshymne; darin auftauchende topografische Bezeichnungen betreffen die nach dem Ersten Weltkrieg abgetrennte Untersteiermark, heute Teil des slowenischen Staatsgebietes.
Der vormals an der Hamburger Universität lehrende, nunmehr in Berlin wirkende Politologe Peter Reichel untersucht seit Längerem das Feld der politischen Symbolik und hat bereits 2005 den Band „Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945“ vorgelegt. Mit seinem aktuellen Buch geht er bis in die Zeit des Vormärz zurück und konzentriert sich dabei „auf den Kernbereich der Staatssymbolik, die Farben, Hymnen und Feiertage und den bis in unsere Tage reichenden Streit um sie“, während „das weite Feld der Denkmäler, Staatsbauten, Staatsbegräbnisse, Gesten etc. […] nur exemplarisch ins Blickfeld“ gerückt werde (S. 13). Hier musste, wenn auch begründet, so doch letztlich eine willkürliche Auswahl getroffen werden, die sich auf die Berliner Siegessäule, das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, die Paulskirche in Frankfurt am Main, das Berliner Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor konzentriert. Die Bildausstattung der hier zu besprechenden Schrift, in Schwarzweiß gehalten, ist - weil in Anbetracht der behandelten Thematik wohl unverzichtbar - sehr zu begrüßen, doch wäre trotz des kostbaren Druckraums in Erwägung zu ziehen, ob dem Leser mit ganz- oder gar doppelseitigen Abbildungen nicht mehr gedient wäre als mit dem kleinformatigen, in den Text montierten Material.
Der Verfasser bedient sich durchgehend eines angenehm lesbaren Erzählstils, der sich nicht selten zu feinen atmosphärischen Schilderungen historisch bedeutsamer Ereignisse verdichtet. Er rückt dabei auch verbreitete Fehleinschätzungen zurecht und hält mit seinen persönlichen Ansichten und Präferenzen nicht hinter dem Berg. Paulskirche und Reichstag sind ihm die „Geburtshäuser der Nation“, da sich in ihnen Deutschlands liberale Tradition verkörpert, die im Vormärz noch unmittelbar mit dem Gedanken der nationalen Einheit verknüpft war; hier fordert er strikte ideengeschichtliche Stringenz in der architektonischen Umsetzung. Diese ließe aber gerade der letzte Reichstagsumbau vermissen: Stararchitekt „Foster - und die beiden anderen mit ihm Erstplazierten des Wettbewerbs – sind an einer Auseinandersetzung mit dem historischen Reichstagsbau offensichtlich nicht interessiert. Als wäre er ein politisch verseuchter oder besonders schutzbedürftiger Bau, will ihn der Brite zunächst mit einem riesigen, von 25 Säulen getragenen, gläsernen, begehbaren und noch dazu Solarenergie produzierenden Baldachin überdecken“. Obwohl Paul Wallots erster, 1894 eingeweihter Reichstagsbau als Kuppelbau dem in Schloss- und Domkuppel zum Ausdruck kommenden Machtanspruch von Thron und Altar ganz bewusst gerade dieses Symbol als weithin sichtbares Zeichen einer selbstbewussten Volkssouveränität entgegensetzt und der aktuelle Bau heute dank seiner Kuppel als „das neue Wahrzeichen der Berliner Republik“ gelte, habe „der durch spektakuläre Hightech-Großbauten weltweit gefragte britische Architekt zunächst gar keine Kuppel gewollt“ (S. 62). Würde er in seinem Heimatland in dieser wie auch in der vom Verfasser ebenfalls kritisierten Frage der Innenraumgestaltung derart unsensibel verfahren, so Reichel dramatisch, „ein Schrei des Entsetzens ginge durch London und Foster fände sich wohl im Tower wieder, hinter meterdicken Mauern“. Der „schmerzlichste Mangel des Hauses“ aber bestehe darin, dass „im Reichstag erneut ein Bild des nationalen Parlaments von sich selbst“ fehle; als würdige Motive aus der bewegten Geschichte der deutschen Volksvertretung böten sich der „Einzug der Abgeordneten in die erste Deutsche Nationalversammlung am 18. Mai 1848, die Ausrufung der ersten Deutschen Republik durch Scheidemann am 9. November 1918, de(r) brennende Reichstag in der Nacht des 27. Februar 1933 und […] de(r) 4. Oktober 1990, als das – seit der Weimarer Republik – erste frei gewählte Parlament des ganzen deutschen Volkes in Baumgartens Plenarsaal Platz nimmt“, an – „am besten alle vier“ (S. 66). So kippt die grundsätzlich berechtigte, aber streckenweise doch überzogene Forderung des Verfassers nach einer sinnhaften, historische Kontinuität vermittelnden Symbolik bisweilen ins Puristische.
Außer in den „Geburtshäusern der Nation“ hat die Idee des Konstitutionalismus vor allem in der aktuellen deutschen Nationalhymne und in den Nationalfarben ihre Verkörperung gefunden. Heinrich Hoffmanns (von Fallersleben, „ein Liberaler, mit vielen vormärzlichen Fortschrittsmännern befreundet, nicht zuletzt mit Robert Blum, dem Führer der gemäßigten Demokraten im Paulskirchenparlament“) im Sommer 1841 auf Helgoland geschriebenes „Lied der Deutschen“ sei „nach Entstehung und Text ein politisch-romantisches Sehnsuchtslied“ gewesen, dessen „erste Strophe keinen aggressiven Machtanspruch (formuliert)“: Bis heute werde „immer wieder übersehen, dass ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ zu dieser Zeit nicht heißt, dass sich ein gesamtdeutscher Nationalstaat gegen und über die Nachbarstaaten erheben soll“. Das Deutschlandlied sei „kein Kampflied, […] droh(e) nicht mit Bildern der Gewalt“, sei „für einen nationalhymnischen Gesang eher zu undramatisch“ und „als Volks- und Trinklied […] auch ein geselliges Lied“ (S. 73). Ein interessantes Detail am Rande ist, dass es seine Uraufführung einst in Hamburg aus Anlass des Besuchs „des in der Hansestadt hoch angesehenen liberalen Staatsrechts-Professors Theodor Welcker, der zuvor in Kiel gelehrt hat“ (S. 72), erlebte. Der Bismarck-Kult und die nationale Rechtsopposition geben dem Lied schließlich „eine völkisch-imperiale Ausdeutung“ (S. 75), die Langemarck-Verklärung und der Nationalsozialismus fügen ihm weiteren Schaden zu. Aus dem Hymnenstreit der frühen Bundesrepublik gehen die national-liberalen Ideale von 1848, „Einigkeit und Recht und Freiheit“, letztendlich siegreich hervor: 1990 bestätigt das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde „die dritte Strophe als Nationalhymne und erklärt, dass nur diese ‚als staatliches Symbol geschützt‘ sei“ (S. 88). Der Verfasser favorisiert allerdings mit Sympathie für den Osten des Landes eine weitere, unkonventionelle Option: „Hätte ein gewisser Respekt gegenüber der DDR und ihrem oppositionellen Erbe aber nicht auch den Gedanken nahelegen können, die ‚Kinderhymne‘ [Bertolt Brechts und Hanns Eislers, W. A.] mit dem Deutschlandlied zu verknüpfen, zumal es in Text und Musik eine Hommage an die Haydn-Hoffmann-Hymne ist? Wir hätten ein wahrhaft gesamtdeutsches Nationallied bekommen“ (S. 95).
Die „überragende Bedeutung der schwarz-rot-goldenen Trikolore resultiere aus dem Tatbestand, dass sie seit dem Vormärz, also seit mehr als einhundert Jahren das Symbol der Demokratie in Deutschland sei“ (S. 138). Die von der liberalen Studentenschaft popularisierten Farben kämen ursprünglich „in den wichtigsten Fahnen des Alten Reiches, der Kaiserstandarte, Kreuzzugsfahne und Reichssturmfahne […] vor: das Schwarz des Adlers auf gelbem bzw. goldfarbenem Untergrund und das Rot seiner Fänge“, weshalb auch die Bundesversammlung (also die Fürstenvertretung) vom 9. März 1948 vorauseilend „das ‚ehemalige schwarz-rot-goldene Reichspanier‘ zu den Farben des Deutschen Bundes erklärt“ (S. 106). Für die 1866 gegen Österreich und den Deutschen Bund militärisch erfolgreichen Hohenzollern ist hingegen „Schwarz-Rot-Gold unannehmbar“ (S. 109), sie bestimmen 1892 die schwarz-weiß-rote Marineflagge des Norddeutschen Bundes zur deutschen Reichsfahne. Nach dem Ende der Monarchie wird sie zum „Farbensymbol der nationalen Rechten“ (S. 113) und später von den Nationalsozialisten, ergänzt um das Hakenkreuz, beibehalten. Der „Farbenkrieg“ der Weimarer Republik – in dem „die schwarz-weiß-rot eingestellte Justiz […] eine Bastion im Kampf gegen die Republik“ gewesen sei und mit Freisprüchen den „Volkssport Flaggenverhöhnung“ tatkräftig gefördert habe (S. 124) - führt zu keinem klaren Bekenntnis zu Schwarz-Rot-Gold, sondern faktisch zu einem Nebeneinander beider Optionen, einem Kompromiss, mit dem auf lange Sicht „mehr verloren als gewonnen“ ist (S. 121). Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konkurrieren die beiden deutschen Staaten um die Farben von 1848, ein Kampf, der schließlich „im deutsch-deutschen Freudentaumel über die Aufhebung der Teilung ein Ende (findet) – einhundertfünfzig Jahre nach Einführung der Trikolore als gesamtdeutsches Symbol in der Paulskirche“ (S. 142).
Die Etablierung eines deutschen Nationalfeiertags sei nach Peter Reichel „das schwierigste Problem in der Geschichte der deutschen Staatssymbolik“, dabei sei gerade er „ohne Alternative“ und „unverzichtbar für die symbolische Vermittlung der Zugehörigkeit zu einer Nation, der emotionalen Bindung an sie und politischen Identifikation mit ihr“ (S. 192). Monarchische Gedenktage und „Gegenfeste“ der Arbeiterbewegung, der Streit um den 11. August als Verfassungstag der Weimarer Republik - Justizminister Gustav Radbruch setzt sich vehement für ihn ein - und die vielfältigen Inszenierungen beider deutscher Diktaturen, das Vermächtnis der Gewaltherrschaft und ihrer Überwindung – so zahlreich wie ohne Konsens ist das Angebot national relevanter Erinnerungstage. Für den aktuellen Nationalfeiertag, den neuen „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober 1990, kann sich der Verfasser keineswegs erwärmen. Nicht nur, dass für diese Entscheidung „bedauerlicherweise keine geschichtspolitischen Überlegungen maßgeblich“ gewesen seien, sei dieser Tag „so blass, so ereignisarm, so emotionslos wie es Vertragsunterzeichnungen und das Inkrafttreten von Verträgen nun mal sind“ und damit auch „ein ganz unangemessenes Datum zum Nationalfeiertag erkoren“ worden (S. 211). Aber er hat auch die passende Alternative parat: „Diese so komplexe wie paradoxe Nationalgeschichte sollte sich auch in unserem Nationalfeiertag spiegeln. Wann aber wäre das besser als am 9. November [1848: Erschießung Robert Blums in Wien; 1918: Ende des wilhelminischen Kaiserreiches, Ausrufung der Republik; 1923: gescheiterter, sogenannter ‚Hitler-Putsch‘; 1938: sogenannte ‚Reichskristall- oder Reichspogromnacht‘; 1989: Fall der Berliner Mauer; W. A.]? […] In seinem komplexen Sinngehalt und seiner emotionalen Ambivalenz sind Scham und Stolz, Zorn und Hoffnung eingeschlossen“, womit wir „einen Nationalfeiertag (hätten), der in seiner historisch-kritischen Rückschau und in seiner politischen Vision dem Rang der Nationalfeiertage anderer großer europäischer Nationen nicht nachstünde und in seiner Wahrhaftigkeit dazu beitragen könnte, dass wir uns als Deutsche aussöhnen könnten mit uns und unserer Suche nach uns selbst“ (S. 215). Natürlich, so möchte man meinen, sind es aber gerade die unbequeme Heterogenität und die verwirrende Emotionsgeladenheit seiner Bezüge (ein Charakteristikum, das ihn übrigens mit der interpretatorischen Pluralität der im Totengedenken-Kapitel vorgestellten, von der Kriegsverherrlichung bis zum Holocaust-Gedenken reichenden Erinnerungskultur über zwei Jahrhunderte verbindet), welche die Chance auf eine breite Konsensfähigkeit dieses Datums (noch) nicht allzu groß erscheinen lassen.
Mit dem Brandenburger Tor stellt der Verfasser an das Ende seiner Betrachtungen wiederum einen Bau, dessen „wechselvolle Ereignis- und Nutzungsgeschichte“ es „erst zu einem preußischen Nationaldenkmal gemacht hat, im Lauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu dem deutschen Nationalsymbol und in den Jahrzehnten des Kalten Krieges und der deutschen Teilung gar zu einem Weltsymbol“ (S. 297). Hier ist für ihn auch der Ort eines würdigen Gedenkens an die Judenvernichtung, umgesetzt in Form einer temporären Installation Horst Hoheisels in der Nacht des 27. Januar 1997, bei der das Brandenburger Tor mit einem Bild der Inschrift über dem Eingang zum Lager Auschwitz überblendet wurde. Warum aber das Stelen-Feld des „sogenannten“ Holocaust-Mahnmals im gleichen Atemzug von Reichel als „so anmaßend wie maßlos“ (S. 332) abqualifiziert werden muss, ist bei allem Verständnis für persönliche Präferenzen und Geschmacksurteile nicht nachvollziehbar.
Gerade weil man somit in manchem anderer Ansicht sein kann, wirft die Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Band uneingeschränkt intellektuellen Gewinn ab. Der Zugang über die Staatssymbolik erweist sich als vielversprechender Ansatz, die Eigenarten der historischen Entwicklung Deutschlands in den letzten 200 Jahren mit ihren Widersprüchlichkeiten abzubilden und auf eine ansprechende und sinnliche Weise erfahrbar zu machen.
Kapfenberg Werner Augustinovic