NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung, hg. v. Priemel, Kim Christian/Stiller, Alexa. Hamburger Edition, Hamburg, 2013. 928 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Publikation, die es zu würdigen gilt, ist eine gewichtige, und dies nicht nur ob ihres beträchtlichen Umfangs von mehr als 900 Druckseiten. Denn bis in die Gegenwart konzentrierte sich das allgemeine Interesse an Nürnberg vorwiegend auf das interalliierte Strafverfahren gegen die 24 prominenten, als „Hauptkriegsverbrecher“ angeklagten Exponenten des nationalsozialistischen Regimes, auf den sogenannten „Nürnberger Prozess“, der im Zeitraum vom November 1945 bis Oktober 1946 im Justizpalast als International Military Tribunal (IMT) abgewickelt wurde. Die zwölf in der Folge bis 1949 unter US-amerikanischer Federführung am selben Ort gegen eine breite Palette weiterer Vertreter des Systems verhandelten Nuernberg Military Tribunals (NMT) haben, summarisch als „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ tituliert und abqualifiziert, hingegen weit weniger Beachtung erfahren. Sehr zu Unrecht, wie die beiden als Herausgeber firmierenden Geschichtswissenschaftler, der an der Humboldt-Universität Berlin forschende Kim Christian Priemel und die an der Universität Bern tätige Alexa Stiller, befinden: Hebe sich doch trotz bestimmter, nicht zu übersehender Kontinuitäten „die spätere Prozessserie von ihrem Vorgänger durch eigene Rechtsgrundlagen, vielfach neues Personal, andere inhaltliche und analytisch differenziertere Schwerpunkte sowie den veränderten politischen Kontext des frühen Kalten Krieges ab“, sodass man „eine bruchlose Linie vom IMT zu den NMT […] vergebens (sucht)“ (S. 9). Es sei daher hoch an der Zeit, diese Verfahren unter dem Label der NMT endlich aus dem übermächtigen Schatten des IMT zu rücken und den ihnen gebührenden, eigenständigen Raum unter geschichtlichen wie rechtlichen Gesichtspunkten abzustecken.

 

Um den Nutzwert zu optimieren, wurde das lange vorbereitete Werk - erste Überlegungen reichen ins Jahr 2005 zurück - als Handbuch konzipiert, das sich, hierin konventionellen Sammelbänden vergleichbar, zunächst in zwei großen Abschnitten mit den Prozessen (Planung, Verfahren, Wirkung) und ihren Hintergründen (Akteure, Recht, Rezeption) in Form analytischer Studien aus der Feder (die Herausgeber eingeschlossen) 25 mehr oder minder namhafter, deutscher, aber auch internationaler Autoren beschäftigt. Ihre primär historische Expertise ist breit gestreut und der Buntheit der Prozessgegenstände angemessen. 14 Verfasser behandeln zunächst (mit Ausnahme des Wilhelmstraßen-Verfahrens, mit dem sich zwei Artikel auseinandersetzen) jeweils monografisch einen Prozess: den Ärzte- (Paul Weindling), Milch- (Lutz Budraß), Juristen- (Christiane Wilke), WVHA- [= Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS] (Jan Erik Schulte), Flick- (Axel Drecoll), I.G.-Farben- (Stephan H. Lindner), Südost-Generäle- (Florian Dierl/Alexa Stiller), RuSHA- [= Rasse- und Siedlungshauptamt der SS] (Isabel Heinemann), Einsatzgruppen- (Hilary Earl), Krupp- (Kim Christian Priemel), Wilhelmstraßen- (Dirk Pöppmann, Ralf Ahrens) und OKW-Prozess [= Oberkommando der Wehrmacht] (Valerie Hébert); ferner den als „Fall 13“ in Rastatt unter französischer Ägide verhandelten Röchling-Prozess (Françoise Berger/Hervé Joly). Die neun prozessübergreifenden Hintergrund-Studien sind noch stärker rechtlich akzentuiert und greifen die folgenden Themen auf: „Nürnberg“ und die institutionellen Lerneffekte (Donald Bloxham), die Richter und verfahrensrechtliche Aspekte (Ralf Oberndörfer), die Ankläger im Profil (Jonathan A. Bush), der Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Daniel Marc Segesser), Verteidigungslinien und -motive im OKW-Prozess (Heike Krösche), die Verteidigung der deutschen Wirtschaft (S. Jonathan Wiesen), die Prozesse aus der Sicht jüdischer Holocaustüberlebender (Laura Jockusch) und in der Wahrnehmung der westdeutschen Öffentlichkeit (Markus Urban) sowie die Problematik des Nulla poena-Grundsatzes (Lawrence Douglas). Auffallend gering ist übrigens unter den Beiträgern die Anzahl der „gelernten“ Juristen, die zudem vorwiegend dem angelsächsischen Raum zuzuordnen sind, wie Jonathan A. Bush (Columbia Law School, New York), Lawrence Douglas (Amherst College, Massachusetts) und Christiane Wilke (Carleton University, Ottawa).

 

Die Gestalt eines Handbuches generiert die Arbeit erst aus ihrem dritten, die Fakten (Personen, Daten, Ereignisse) dokumentierenden Teil und aus den alle Beiträge umspannenden, umfangreichen Registern im Anhang, zusammengenommen gut 170 Druckseiten. Bei diesen die NMT ebenso wie das IMT erfassenden Unterlagen handelt es sich nicht etwa um Akten aus den Prozessen, die ja weitgehend längst in umfangreichen offiziellen, nach der Einbandfarbe diskriminierten Akteneditionen erfasst sind: in den stark verbreiteten 42 Bänden der Blue Series des IMT und den von der deutschsprachigen Forschung weit seltener rezipierten, in Ermangelung geeigneter Indices kaum benutzbaren 15 Bänden der Green Series der NMT, wobei „die rund 140.000 Seiten Verhandlungsprotokoll sowie die etwa 30.000 eigens für die NMT zusammengestellten Dokumente einen umfassenderen Quellenkorpus bilden als das IMT-Material und nur aus pragmatischen Gründen in ein engeres Seitenkorsett gepresst wurden“ (S. 14f.), sowie in einer weiteren zehnteiligen, zur Dokumentation des Angriffskriegs zusammengestellten Red Series. Stattdessen präsentieren die Herausgeber systematische Zusammenstellungen der Eckdaten der prozessualen Inhalte, Abläufe und Ergebnisse sowie der involvierten Proponenten. Eine Tabelle benennt beispielsweise die insgesamt neun Anklagepunkte und listet ihre jeweilige Verteilung auf die einzelnen Prozesse auf, womit auf einen Blick deutlich wird, dass der Punkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Zwangsarbeit, Medizinische Experimente, ‚Arisierung‘, Beteiligung an Verbrechen der SS, Verbrechen gegen ausländische Zivilisten)“ als einziger in sämtlichen Verfahren zur Anklage kam; eine weitere beschäftigt sich zusammenschauend mit den Urteilen und Strafmaßen jeweils nach folgenden Parametern: der Anzahl der Angeklagten und der Einzelurteile, des Ausspruchs und der Vollstreckung von Todestrafen, von weiteren Strafen wie lebenslänglichen und sonstigen Haftstrafen, Vermögensverlust, der Anzahl der Freisprüche und der Verfahrenseinstellungen, der Selbstmorde und der Verurteilungen in den Anklagepunkten Verschwörung zu Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Organisationsverbrechen und Angriffskrieg. Diese Statistik offenbart unmittelbar, dass der Verschwörungsvorwurf, der im IMT noch zu acht Verurteilungen geführt hatte, in den Urteilen des NMT gänzlich fallen gelassen wurde, wie auch der Angriffskrieg nur noch in einem einzigen, dem Wilhelmstraßen-Fall, eine Rolle spielte, wohingegen das in den IMT-Sprüchen nicht berücksichtigte Organisationsverbrechen in sieben der zwölf Fälle der NMT herangezogen wurde und dort zu insgesamt 75 Verurteilungen führte. Unmissverständlich halten daher die Herausgeber mit Ausblick auf die Gegenwart fest: „Es waren die Urteile der oft geschmähten Richter in den NMT-Verfahren, mit ihrer letztlich konsistenten Akzentsetzung auf Massenmord und Gewaltverbrechen als Maßstäbe für Schuld und Strafe, die den Weg zur Anklage- und Urteilspraxis der internationalen Strafgerichtshöfe seit den 1990er Jahren wiesen – und nicht das im Zeichen des Angriffskrieges stehende IMT“ (S. 60).

 

Als sehr informationsträchtig erweisen sich auch die folgenden, nach den einzelnen Verfahren geordneten Prozessüberblicke. Sie geben jeweils Auskunft über die Mitglieder des Gerichtshofs und der von Telford Taylor in sämtlichen zwölf amerikanischen NMT-Verfahren als Chief of Counsel geleiteten Anklagebehörde, benennen die Angeklagten und ihre Verteidiger, die markanten Prozesstermine, die eingebrachten Beweismittel von Anklage und Verteidigung hinsichtlich ihrer Art und Zahl sowie die Schuldsprüche in den jeweiligen Anklagepunkten, das Strafmaß und das Datum der Entlassung bzw. - im Fall des Falles - der Hinrichtung. Weitere alphabetisch geordnete, tabellarische Aufstellungen beleuchten die Personalstruktur und zeigen dabei unverzüglich nachvollziehbare Kontinuitäten auf. Die Kategorien erfassen namentlich die Mitglieder der Gerichtshöfe (Tribunal, Fall, Status, letzter Posten), der Anklagebehörde (Fall), der Verteidigung (Mandanten, Verfahren) und die Zeugen vor dem IMT (Verteidigung/Anklage, Stellung/Funktion, aufgerufen von/für, sonstige Rolle in den NMT oder in anderen alliierten Prozessen). Die Struktur der Anklagebehörden des IMT, des Office of the Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality (OCCPAC) unter Robert H. Jackson, und der NMT, des Office of Chief of Counsel for War Crimes (OCCWC), kann anhand vierer, in zwei Fällen leider etwas klein geratener Organigramme studiert werden. Highlights des üppig ausgestatteten Anhangs sind unter anderem das wohlgegliederte Verzeichnis der ungedruckten und gedruckten Quellen, die eine große Masse an Sekundärliteratur erfassende Bibliografie sowie das wegen seines praktischen Nutzens schier unverzichtbare, hier gut differenzierte und sämtliche Beiträge überspannende Sachregister.

 

Überzeugend fällt vor allem aber die inhaltliche, zahlreiche Impulse zur Diskussion bereitstellende, sowohl allgemein historische als auch spezifisch rechtsgeschichtliche Desiderata abdeckende Bilanz des Bandes aus. Annette Weinke, Verfasserin der bislang maßgeblichen, jedoch nur 106 Seiten starken Überblicksdarstellung „Die Nürnberger Prozesse“ (2006) [vgl. dazu auch die Besprechung des Rezensenten in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte (JoJZG) 2/2012, S. 85ff.], hat dereinst das Fehlen eines hinreichenden Standardwerks zu den Nürnberger Verfahren als „Versäumnis der deutschen Zeitgeschichtsforschung, das gesamtgesellschaftliche Ursachen hat“, gebrandmarkt. Die von ihr dereinst eingemahnte, „sozial- und kulturgeschichtlich informierte Gesamtdarstellung zu Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des Nürnberger Kriegsverbrecherprogramms“ scheint nun, sieben Jahre später, tatsächlich verwirklicht. Dabei macht das als Sammelwerk angelegte Handbuch den Vorteil der stärkeren Konsistenz, den eine Monografie möglicher Weise geboten hätte, durch die große perspektivische Vielfalt und die Aktualität seiner Beiträge - beispielsweise werden Bezüge zum prominenten Demjanjuk-Verfahren aufgegriffen (S. 719ff.) - mehr als wett. Im synthetisierenden Grundsatzartikel der Herausgeber zur historischen Verortung der Nürnberger Militärtribunale laufen viele Fäden zusammen: „War im IMT das weltweit sichtbare Signal persönlicher Verantwortlichkeit und eingelöster Strafandrohung Selbstzweck gewesen, so trat dieser Gedanke in den NMT […] in den Hintergrund. […]. Kurz, die NMT setzten sich zum Ziel, den NS-Staat zu sezieren und seine Strukturen offenzulegen. Ebendies machte es so attraktiv, sich der verfügbaren, im eigenen Haus buchstäblich greifbaren politikwissenschaftlichen und historischen Interpretationsfiguren – Imperialismus und Militarismus, Kartellkapitalismus und bürokratische Herrschaft – zu bedienen“. Die Anklage legte sich schließlich auf das Konzept fest, in der Prozessserie mit Hilfe eines „institutionelle(n) Ansatz(es) […] die komplexe Relation von bürokratischen Entscheidungsprozessen und individueller Verantwortung realitätsgetreu und, wichtiger noch, juristisch aussagekräftig abzubilden“ (S. 42f.). In Summe kommen die Untersuchungen zum nicht nur aus rechtshistorischer Sicht erfreulichen Befund, dass „das Verfahrensrecht den Prozess strukturierte und sich in seinem Vorrang von politischen Wünschen und medialem Interesse nicht beirren ließ“ und dass, wie die bei oberflächlicher Betrachtung disparat anmutenden Entscheidungen im Kern deutlich machen, „die Tribunale Schuld strikt individuell bemaßen und im Zweifel tatsächlich für den Angeklagten entschieden“ (S. 54).

 

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic