Mitterauer, Michael,
Historische Verwandtschaftsforschung. Böhlau, Wien 2013. 248 S. Besprochen von
J. Friedrich Battenberg.
Der Wiener Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael
Mitterauer kann als einer der besten Kenner zu Fragen der historischen
Familien- und Verwandtschaftsforschung gelten. In seinen zahlreichen
einschlägigen Untersuchungen hat er den Blick auf Differenzierungen,
unterschiedliche Systeme und Denkformen gerichtet, dabei auch intensiv
europäische und außereuropäische (wie z. B. chinesische und japanische) Formen
vergleichend herangezogen. Die Kenntnis dieser uns meist fremden Modelle ist
auch für den Rechts- und Verfassungshistoriker von außerordentlichem Nutzen, da
sie den Blick für die geschichtliche Bedingtheit unserer bekannten Familien-
und Verwandtschaftssysteme öffnet und damit die Grundlagen des deutschen Familienrechts
und Erbrechts berührt.
Der vorliegende Band ist freilich keine
eigenständige Monographie über die „Historische Verwandtschaftsforschung“, wie
man aus dem Buchtitel entnehmen könnte. Vielmehr stellt der Autor hier sieben
aus unterschiedlichen Zusammenhängen entstandene Aufsätze der Jahre 1988 bis
2011 zusammen, ergänzt durch einen neuen Beitrag über „‘Spanische Heiraten‘ –
Dynastische Endogamie im Kontext konsanguiner Traditionen“, und umrahmt durch
einen einleitenden Beitrag, der die gemeinsamen Gesichtspunkte und die
Tendenzen der heutigen Forschung herausstellen will. Es werden also nur
Einzelaspekte herausgegriffen, mit häufigen Überschneidungen und
Wiederholungen, aber doch so, dass man als Leser einen guten Eindruck über die
vielfältigen Formate historischer Verwandtschaftsbeziehungen bis zur Gegenwart
bekommt. Und schon einleitend stellt der Autor rhetorisch die Frage, inwieweit
sich aus der Vergangenheit Tendenzen des Wandels für Gegenwart und Zukunft
erkennen lassen. Er spricht von einem Bedeutungsrückgang verwandtschaftlicher
Netzwerke – und mahnt, um hier die Gründe zu erfahren, eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit zwischen Historikern und Sozialwissenschaftlern an; warum er
Juristen bzw. Rechtshistoriker nicht in den Blick nimmt, sagt er nicht.
In seiner Einleitung geht es dem Autor vor allem
um einen Überblick über die Forschung und die methodischen Ansätze der relativ
neuen Disziplin der historischen Verwandtschaftsforschung. Er weist auf die
erhellenden Vergleiche zwischen mitteleuropäischen und südosteuropäischen
Familienverhältnissen hin (dort herrscht des Muster der Patrilinearität vor),
spricht das Fortleben von Vorstellungen des Ahnenkults in christlichen Regionen
Europas an und geht auf die Faktoren ein, welche die verschiedenen
Verwandtschaftssysteme konstituiert haben. Mangels tragfähiger statistischer
Untersuchungen berichtet er sogar von persönlichen Erfahrungen aus Gesprächen
mit Betroffenen, die ihm Erkenntnisgewinne gebracht haben. All diese Fragen
werden in den Einzelbeiträgen aus verschiedenen Perspektiven angegangen. Er
schreibt über die religiösen Bedingungen von Verwandtschaft („Die Toten und die
Lebenden“), über die mittelalterlichen Verwandtschaftssysteme („Geistliche
Verwandtschaft im Kontext“), über die mittelalterlichen Grundlagen von Wandel
und Beharrung im europäischen Vergleich („Die Terminologie der
Verwandtschaft“), über die Inzestproblematik in historischen Gesellschaften
(„Die ‚Sitten der Magier‘“), über die Leviratsehe als Institut der
Familienverfassung („Die Witwe des Bruders“), über das Phänomen der Ziehkinder
im Ostalpenraum („Verwandte als Eltern“) und über die Traditionen des Orients
und Europas im interkulturellen Vergleich („Kontrastierende Heiratsregeln“) –
Beiträge, die größtenteils in der einschlägigen wissenschaftlichen Forschung
schon bekannt sind. Besonders erfreulich ist es, dass der Autor den Texten ein
ausführliches Sachregister beigibt und damit deren Benutzung zu
rechtshistorischen Zwecken wesentlich erleichtert.
Darmstadt J. Friedrich Battenberg