Herrmann, Ulrich, Vom HJ-Führer zur Weißen Rose: Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Mit einem Beitrag von Holler, Eckard über die Ulmer „Trabanten“ (= Materialien zur historischen Jugendforschung). Beltz Juventa, Weinheim 2012. 380 S., Ill. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.
70 Jahre nach der Hinrichtung der Geschwister Sophie und Hans Scholl und ihres Freundes Christoph Probst besteht noch immer ein intensives Interesse daran, das Leben und die persönliche Entwicklung der Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ aufzuklären. Ulrich Herrmann widmet sich nach seiner Zeit als Professor der Pädagogik dem bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen Strafverfahren am Sondergericht für den Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart gegen Klaus Zwiauer, Christoph Keller, Ernst Reden und Hans Scholl. Die Arbeit ist gegliedert in einen beschreibenden Teil des Vorverfahrens und der Darstellung des Ganges der Ermittlungen (S. 13-37), einer Schilderung Eckhard Hollers zu Hans Scholl und den Ulmer „Trabanten“ (S. 38-67), der eigentlichen Strafverhandlung nebst ihrer Vorbereitung (S. 68-112) und der Würdigung der Bedeutung des Strafverfahrens für die persönliche Entwicklung Hans Scholls auf seinem Weg in die Gegnerschaft zum NS-Regime (S. 113-132). Hierfür steht der Text der Flugblätter der Weißen Rose III und IV. Der folgende Dokumentenanhang (S. 133-379) bringt in der Form der Chronologie der Ereignisse zahlreiche Vernehmungsprotokolle, Protokolle von Zeugenaussagen, die Anklageschrift und das Urteil. Durch die gewählte Art der Präsentation der Dokumente ist für jede wesentliche Aussage die Quelle leicht verfügbar.
Die Sondergerichte waren durch Verordnung der Reichsregierung vom 21. 3. 1933 jeweils für den Bezirk eines Oberlandesgerichts gebildet worden, um Verbrechen und Vergehen ahnden zu können, die sich gegen die „Regierung der nationalen Erhebung“ richteten. Eine wesentliche Zielgruppe neben der Arbeiterbewegung und den ehemaligen Parteien waren die Gruppen der christlichen und bündischen Jugend. 1936 betrieb die Hitlerjugend mit Unterstützung der anderen staatlichen Behörden eine Kampagne zu „Vernichtung bündischer Reste“. Reichsweit lag dafür die Zuständigkeit bei der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Düsseldorf. In diesem Zusammenhang ist Robert Oelbermann vom ,Nerother Wandervogel’ zu nennen, der nach einer Strafverurteilung 1937 in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert wurde und 1941 im Konzentrationslager Dachau starb. Eberhard Köbel (tusk), Gründer der d.j.1.11., einer Jungenschaft, konnte rechtzeitig nach England fliehen und wurde als besonderer Feind des Reiches angesehen. Die Anklage warf Zwiauer und Keller vor, in Stuttgart in der ,Rominshorte’ eine Gruppe der d.j.1.11. nach deren Verbot durch die württembergische Regierung fortgeführt zu haben. Hans Scholl wurde vorgeworfen, in der Ulmer Hitlerjugend, in der er vom 1. 1. 1935 bis Ostern 1936 Fähnleinführer und danach nur noch Jungzugführer war, durch die Fortführung von Aktivitäten in der Art bündischen Jungenlebens bis zum Juli 1937 gegen staatliche Verbote verstoßen zu haben. Im Rahmen der Ermittlungen wurden durch einen jugendlichen Zeugen Einzelerlebnisse geschildert, welche die Staatsanwaltschaft aufgriff und zu einer Anklageerweiterung auf eine strafbare Unzucht mit Abhängigen nutzte. Ein beliebter Topos der strafrechtlichen Anklagen wegen bündischer Umtriebe war es, sie um Aspekte einer Unzuchthandlung zu ergänzen, etwa nach dem Denkmodell „Wer bündische Arbeit fortführt, treibt auch Unzucht.“
Die Darstellung Herrmanns und der Dokumentenanhang machen die Zeit der Jahre 1933 bis 1938 überaus plastisch. Die sehr ausführlichen Protokolle zeigen, wie detailverliebt Alltagserlebnisse 14-17jähriger Jungen zu Straftaten werden, wenn sie mit den Augen der Strafverfolger eines Unrechtsstaates beobachtet werden. Eine Kothenfahrt übers Wochenende mit Liedern zur Balaleika oder eine Tippeltour in Schweden mit einem Notgeld in der Creme-Schachtel, was zu einem Devisenvergehen wurde, werden zu Großereignissen, weil die Staatsführung autonomes Jungenleben in Kleingruppen fürchtet. Durch ihre kleinlichen Verbote, die Bemühungen um ein Einheitsleben in der Volksgemeinschaft absichern sollten, brachte die Staatsführung früh Menschen gegen sich auf, die ursprünglich durchaus der Meinung waren, das neue System verdiene eine Unterstützung. Gerade am Beispiel Hans Scholls zeigt die Arbeit in ihren Dokumenten wie der begeisterte HJ-Führer, der nach dem Arbeitsdienst Reiter eines Kavallerieregiments ist, darunter leidet, dass länger zurückliegende Episoden seines Jungenlebens durchleuchtet werden, er zu Jahresende 1937 für Wochen in Untersuchungshaft genommen wird und sich einer Anklage stellen muss, die mit einer erheblichen Bestrafung enden kann. Sie wiederum wäre das Ende seiner Lebensplanung, die über ein Studium zum Beruf des Arztes führen sollte, gewesen.
Das strafrechtlich Interessante des Dokumentenanhanges ist neben der schon erwähnten Ausführlichkeit der Protokolle, die Vollständigkeit der Unterlagen. Lange galten Akten zu Gerichtsverfahren der nationalsozialistischen Zeit als verloren, zerstört oder unauffindbar. Hier wäre ein kleiner Hinweis des Herausgebers auf die archivalische Überlieferung der Unterlagen wünschenswert gewesen. Allein das Aktenzeichen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, sagt zu wenig. Das Urteil vom 2. 6. 1938 ist für Urteile der Sondergerichte sicher untypisch. Als Dokument der Rechtsprechung dieser Zeit verdient es, dem Vergessen entrissen zu werden. Gerade der vorsitzende Richter Cuhorst steht für den Typ des Sonderrichters, der ohne Skrupel zahllose Verurteilungen zur Todesstrafe ausgesprochen hat. Von ihm ein Urteil zu lesen, das Jungentorheiten als solche würdigt und ihnen die strafrechtliche Relevanz nimmt, ist schon beachtlich. Inwieweit hierauf Scholls Vorgesetzter, Rittmeister Jörg Scupin, der im April 1945 Oberst war, und 1963 noch lebte, hinwirken konnte, ist leider nicht mehr zu klären. Wenn dann auch noch aus den Akten ersichtlich wird, dass das Verfahren im Hinblick auf ein zu erwartendes Straffreiheitsgesetz verzögerlich betrieben wird, so zeigt dies durchaus, dass Richter auch 1938 noch einen Spielraum zu sachlichen Entscheidungen hatten. Ernst Reden wurde zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt, die jedoch als durch die Untersuchungshaft verbüßt galt. Gegen die Angeklagten Scholl, Keller und Zwiauer wurden die Verfahren eingestellt.
Herrmann sieht in diesem Verfahren den Wendepunkt im Leben Hans Scholls hin zu dem aktiven Widerstand. Im Gegensatz zu ihm möchte Barbara Ellermeier in ihrer jüngst erschienenen Biographie zu Hans Scholl den Wendepunkt erst im Frühsommer des Jahres 1942 sehen. Die Äußerungen Hans Scholls, soweit sie in dem vorliegenden Buch gebracht sind, lassen deutlich werden, dass für ihn mit diesem Verfahren und seinen Begleitumständen sicher die Phase der jugendlichen Unbeschwertheit und die unkritische Einstellung zum NS-Regime beendet waren.
Leider ist zu dem beisitzenden Richter des Sondergerichts, Amtsgerichtsrat Haug, vermerkt, dass keine Angaben ermittelt werden konnten. Max Haug wurde, wie Ernst Streng in den Tuttlinger Heimatblättern NF. 55, 1992, S. 26, mitteilt, am 18. 3. 1898 in Murrhardt geboren. Er wurde am 1. 7. 1937 als Amtsgerichtsrat beim Amtsgericht Stuttgart I angestellt, im Oktober 1937 zur 5. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart versetzt und gleichzeitig Mitglied des Sondergerichts Stuttgart. Am 1. August 1938 kam er als Bürgermeister nach Tuttlingen, das Amt endete am 21.4.1945 mit dem Einmarsch der französischen Truppen. 1943 promovierte er an der Universität Tübingen über „Die familienrechtliche Bindung einzelner Gegenstände im Erbfall“.
Leider ist der Arbeit kein Personenregister beigegeben, das die zahlreichen Dokumente und den Text erschließend verbunden hätte.
Neu-Ulm Ulrich-Dieter Oppitz