Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, hg. v. Görtemaker, Manfred/Safferling, Christoph, 2. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 373 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Systemumbrüche werden gemeinhin in erster Linie unter den Aspekten der Dynamik und des Wandels wahrgenommen. Dabei tritt oft in den Hintergrund, dass solche Veränderungen niemals gleichsam eine tabula rasa produzieren, sondern stets auch von Kontinuitäten geprägt sind, die auf die Gestaltung des Neuen unweigerlich Einfluss nehmen. Solche Kontinuitäten gründen zum einen auf den handelnden Akteuren, deren Expertise und Sachkompetenz häufig nicht kurzfristig ersetzbar sind, zum anderen auf der Trägheit insbesondere von Systemen starker inhaltlicher Kohärenz, wie sie auch für das Rechtswesen zutrifft. Opfer einer nach freiheitlich-demokratischem Standard rechtswidrig handelnden nationalsozialistischen Justiz mussten etwa so mehr als ein halbes Jahrhundert um die Aufhebung der inkriminierten Urteile kämpfen.

 

Von 1950 bis 1973 war die Rosenburg in Bonn-Kessenich Sitz des Bundesministeriums der Justiz (BMJ), der Name der Örtlichkeit sollte zum Synonym für eine später oft nahezu wehmütig beschworene atmosphärische Eigenart werden. Als im Lauf der 1980er Jahre durch kritische Forschungsarbeiten, allen voran Lothar Gruchmanns „Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner“ (1988), die zunächst geleugnete Integration des Justizapparats in die nationalsozialistische Herrschaftspraxis immer deutlicher zutage trat, wurde auch die Notwendigkeit der Untersuchung des Fortwirkens dieses Erbes zunehmend erkannt. Was 2005 das Auswärtige Amt zu leisten vermochte, nämlich die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Ressorts und die abschließende Publikation der Untersuchungsergebnisse („Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“, 2010), sollte nun für das Bundesministerium der Justiz zum Modell werden. Von Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die dem vorliegenden Band ihr Vorwort voranstellt, ausdrücklich befürwortet und unterstützt, konzeptionierte ein Team um Michael Stolleis im Sommer 2011 das Projekt, das sich im April 2012 im Rahmen des Symposiums „Die Rosenburg – Das Bundesministerium der Justiz und sein Umgang mit der NS-Vergangenheit“ unter Teilnahme renommierter Forscher erstmalig publikumswirksam der interessierten Öffentlichkeit präsentierte. Der aktuelle Band versammelt die dort eingebrachten Beiträge (Ulrich Herbert allgemein über Justiz und NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik 1945 – 1970; Joachim Rückert exemplarisch über konkrete personelle Kontinuitäten im BMJ; Horst Dreier zur Verfassungsentwicklung; Bernd Rüthers mit 14 Hypothesen zur Gesetzgebung im Licht der Wendejahre 1919, 1933, 1945/49 und 1989/90; Thomas Vormbaum über die strafrechtliche Behandlung von NS-Justizverbrechen in der Nachkriegszeit; Dieter Schwab zum Familienrecht vor und nach 1945; Michael Stolleis mit resümierenden Schlussbetrachtungen und einem Ausblick auf weitere Forschungsdesiderata), ergänzt um Aufsätze zu den bisherigen Aktivitäten des Ministeriums in Sachen Umgang mit der Vergangenheit (Manfred Görtemaker), zur Amnestie und zur Strafrechtsreform (Christoph Safferling) sowie zum Wirtschaftsrecht vor und nach 1945 (Jan Thiessen). Auf einen Beitrag zum Militärstrafrecht musste „aus Zeitgründen“ (S. 15) leider vorläufig verzichtet werden.

 

Aufgabe der unabhängigen Kommission wird sein, den „Umgang des Bundesministeriums der Justiz und seines Geschäftsbereichs mit den persönlichen und politischen Belastungen, die sich aus dem Dritten Reich ergaben“, zu überprüfen. Zunächst soll erforscht werden, „wie groß der Personenkreis ist, der in der NS-Zeit bereits aktiv war und nach 1949 in den Dienst des BMJ übernommen wurde, und welche Kriterien und Maßstäbe bei der Einstellung sowie bei Beförderungen galten“, aber auch „die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Unrecht der NS-Justiz, die Bereinigung der Gesetze von nationalsozialistischer Ideologie und die Strafverfolgung von NS-Tätern durch die deutsche Justiz“. Ebenfalls Gegenstand der Untersuchung werden sollen „die Rolle des BMJ bei der Amnestierung von NS-Tätern, durch die bis 1958 fast alle Verurteilten freikamen, und bei der Erarbeitung des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 10. Mai 1968, durch das die Beihilfestrafbarkeit herabgesetzt wurde, so dass […] in Bezug auf nationalsozialistische Gewaltverbrechen die rückwirkende Verjährung dieser Beihilfetaten zum 8. Mai 1960 eintrat“, ferner, inwieweit „das BMJ bei der verschleppten Rehabilitierung der Opfer der NS-Justiz mitwirkte“, die „Haltung […] zu den Nürnberger Prozessen und zum Alliierten Kontrollrat“ und nicht zuletzt das Agieren der Zentralen Rechtsschutzstelle, „die bis 1953 im Geschäftsbereich des BMJ angesiedelt war, ehe sie in den Verantwortungsbereich des Auswärtigen Amtes wechselte, wo sie bis zu ihrer Auflösung 1968 deutsche Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung im Ausland warnte und die Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen erschwerte“ (S. 12f.).

 

Wenngleich sich das gesamte Unternehmen erst in der Eingangsphase befindet, kann der Band bereits mit plausiblen Ergebnissen oder zumindest Diskussionsgrundlagen, beispielsweise in der Personalfrage, aufwarten. Ulrich Herbert - wie Manfred Görtemaker Professor für Neuere Geschichte, während es sich bei allen anderen Beiträgern ausnahmslos um Rechtsgelehrte handelt - spricht von einer nachvollziehbaren „außerordentlich erfolgreiche(n) vergangenheitspolitische(n) Selbstverteidigung der einstigen NS-Juristen“, die darin „nur erfolgreicher als andere Berufsgruppen“ gewesen seien, Unverständnis hinterließe hingegen ihr auch Massenmörder einschließender Korpsgeist. Für die meisten belasteten Juristen war wohl „die Überzeugung oder die Autosuggestion ausschlaggebend, man habe stets nur dem Recht gedient, und zwar jeweils unter den gegebenen Umständen. Die eigene Erinnerung wurde so durch das Postulat der eigenen Unschuld verformt oder besser: neu geschaffen“. Zur Rückkehr der alten Eliten nach 1945 in die Spitzenpositionen der Verwaltung und der Justiz gab es nach Herbert „Alternativen, die versäumt worden sind“ (S. 58f.), ohne dass er diese allerdings näher benennt. Hier kommt Joachim Rückert zu einem anderen Schluss: Zwar sähen im RJM „die Zahlen der Personalentwicklung mit NS-Belastung bis 1966 niederschmetternd aus […]. Sie sind es aber nicht. Sie zeigen einfach eine professionelle Elite im neu errungenen Rechts- und Sozialstaat. Personelle Alternativen im Rahmen der Profession gab es beim Neuaufbau kaum. […] Am Nürnberger Maßstab des Juristenurteils gemessen sind jedenfalls keine kritisch Belasteten im Ministerium tätig geworden“. Sein Beitrag endet mit dem überaus bemerkenswerten Satz: „Glückliche Zeiten, die nicht so auf die Probe gestellt wurden wie die hier behandelte Alterskohorte in ihrer Zeit“ (S. 86f.). Michael Stolleis hebt hervor, dass „die Richterschaft der obersten Gerichtshöfe des Bundes […] sich weitgehend aus derjenigen des Reichsgerichts, des Reichsarbeitsgerichts, der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe und des Reichsverwaltungsgerichts (1941-1945), des Reichsfinanzhofs, des Reichsversicherungs- und des Reichsversorgungsamts (rekrutierte)“, während „die Richterschaft des neuen Bundesverfassungsgerichts fast ausnahmslos aus Personen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, (bestand). Kein Wunder, dass sich daraus Divergenzen und Spannungen in der Rechtsprechung ergaben“. Überdies sei „der gesamte Komplex der neuesten Rechtsgeschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive des Reichsjustizministeriums nicht darstellbar ohne den Resonanzraum Europas und der Welt, speziell was die Thematik der NS-Verbrechen angeht“ (S. 330f.).

 

Der vorliegende Sammelband, der mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis und einem Personenregister ausreichend versehen ist und auch seine Autoren näher vorstellt, bietet so eine erste, überaus kompetente Bestandsaufnahme und Einführung in das Aufgabenspektrum der unabhängigen Kommission, der auf dieser ambitionierten Arbeitsgrundlage beim Hinterfragen des „Geistes der Rosenburg“ größtmöglicher Erkenntnisertrag beschieden sein möge.

 

Kapfenberg Werner Augustinovic