Dauer, Friederike, Die Bibliothek des Reichsgerichts (= Arbeitshefte der Arbeitsgemeinschaft für juristisches Bibliotheks- und Dokumentationswesen 24). Neugebauer, Graz-Feldkirch 2013. 172 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Die
Untersuchung ist aus einer Assessorarbeit hervorgegangen, die von der
Verfasserin im Jahre 1991 an der damaligen Fachhochschule für Bibliotheks- und
Dokumentationswesen (Köln) im Rahmen der Laufbahnprüfung für den Höheren
Bibliotheksdienst vorgelegt wurde. Die Autorin hat diese Arbeit um ein Kapitel
über die „Reichsgerichtsbibliothek nach der Wiedervereinigung Deutschlands“ (S.
131ff.) erweitert. Wie sich aus der Untersuchung ergibt, ist die Verfasserin nicht
nur Bibliothekarin, sondern auch Juristin.
Die
Untersuchung ist in fünf Abschnitte gegliedert. Nach einer knappen Einleitung
(S. 11ff.) wird zunächst die „Geschichte des Reichsgerichts vor dem Hintergrund
der rechtlichen und politischen Situation in Deutschland“ geschildert (S. 15ff.).
Darin geht die Verfasserin kurz auf die Vorläufer des Reichsgerichts ein, nämlich
das Reichskammergericht, den Reichshofrat und auf das Bundesoberhandelsgericht
bzw. Reichsoberhandelsgericht als die unmittelbaren Vorläufer des
Reichsgerichts im 19. Jahrhundert. Sodann stellt sie die Eröffnung des
Reichsgerichts am 1. 10. 1879 in Leipzig dar, die ersten Jahre des Gerichts und
seine Entwicklung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Zeit des NS-Regimes
(1933-1945). Im Folgenden behandelt sie das Hauptthema der Untersuchung, also die
Geschichte der Bibliothek, und zwar in drei Abschnitten: Der erste Abschnitt
schildert die Gründung des Reichsgerichts und seiner Bibliothek (1879) und die
Entwicklung bis 1945 (S. 33ff.). Dargestellt werden die räumlichen Verhältnisse,
das Personal, vor allem die Bibliotheksdirektoren, ferner die Erwerbung und der
Bestand, die Katalogisierung und die Regelungen zur Benutzung der Bibliothek. Besonders
wichtig ist die Feststellung, dass der größte Teil der Buchbestände während des
Zweiten Weltkriegs durch Auslagerung gerettet werden konnte (vgl. S. 123). In
einem zweiten Abschnitt geht es um das „Schicksal der Bibliothek des
Reichsgerichts von 1945 bis 1990“ (S. 119ff.): Nachdem das Reichsgericht 1945
aufgelöst worden war, wurde seine Bibliothek der Bibliothek des Obersten
Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik einverleibt. Der dritte
Abschnitt, der die „Reichsgerichtsbibliothek nach der Wiedervereinigung
Deutschlands“ behandelt (S. 131ff.), ist besonders aufschlussreich: Sowohl der
Bundesgerichtshof (Karlsruhe) als auch das Bundesverwaltungsgericht (Leipzig)
beanspruchten die Bibliothek. Man einigte sich im Jahre 1997 auf einen
Kompromiss; die Bibliothek wurde geteilt. Die Archivalien, die alten Drucke und
der gesamte historische Buchbestand bis zum Jahr 1800 sowie die für das
Bundesverwaltungsgericht einschlägigen Bücher, insbesondere die Literatur zum
öffentlichen Recht, insgesamt ca. 74.500 Bände, wurden Leipzig zugewiesen; der
Rest, der am ehesten die Bedürfnisse des Bundesgerichtshofs befriedigen konnte,
wie die Literatur zum Zivilrecht und zum Strafrecht, insgesamt ca. 106.000
Bände, erhielt Karlsruhe. 25.000 Dissertationen waren bereits zu Anfang der
90er Jahre von der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Europäische
Rechtsgeschichte übernommen worden (S. 162). Eine knappe „Schlussbemerkung“ (S.
163ff.) sowie ein „Archivalien- und Literaturverzeichnis“ (S. 165ff.)
beschließen den Band. Aufgelockert wird die Untersuchung durch eine Reihe von Photographien,
die zum Beispiel die Direktoren, aber auch das Gebäude und die Räumlichkeiten
der Bibliothek zeigen.
Liest
man die Arbeit mit den Augen des Rechtshistorikers, so fallen die folgenden
Punkte besonders ins Auge:
Die
Bibliothek des Reichsgerichts verfügte über eine umfangreiche Abteilung
rechtshistorisch bedeutsamer Literatur, insbesondere von Publikationen zum ius
commune, also dem römisch-kanonischen Recht (vgl. S. 69ff.). Die nach 1800
erschienene Literatur wurde sogar fast vollständig angeschafft. Auf diese Weise
entstand eine „bis ins Mittelalter hinab reichende Dokumentation europäischer
Rechtskultur, die Schritt halten kann mit den juristischen Abteilungen von
historisch gewachsenen großen Bibliotheken in Rom, Paris, Madrid, Wien, Edinburgh
und anderswo“, wie der von der Autorin zitierte Rechtshistoriker Gero
Dolezalek feststellt (vgl. S. 70). Dieser Teil der Bibliothek des Reichsgerichts
befindet sich heute in der Bibliothek des Bundesverwaltungsgerichts (Leipzig).
Ganz
anderer Art ist die rechtshistorische Bedeutung einiger Darlegungen, die sich im
Abschnitt über die „Geschichte des Reichsgerichts vor dem Hintergrund der
rechtlichen und politischen Situation in Deutschland“ (S. 15ff.) finden. Darin
geht die Verfasserin auf die Rolle des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 ein.
Zunächst stellt sie auf der Seite 31 fest, für das Reichsgericht habe „die
Bindung an die nationalsozialistischen Gesetze außer Frage“ gestanden. Weiter heißt
es unter Berufung auf eine Äußerung Hermann Weinkauffs aus dem Jahre
1968, das Gericht sei in einem „Zwiespalt zwischen in langer Tradition
verwurzelter, kritischer Distanz, in Einzelfällen sogar Widerstand und
andererseits Systemtreue“ gestanden. Diese Darlegungen müssen kritisiert
werden: Hermann Weinkauff (1894-1981), seit 1937 Reichsgerichtsrat, seit
1950 erster Präsident des Bundesgerichtshofs,[1] vertrat zusammen
mit vielen anderen, durch die NS-Zeit belasteten Juristen nach 1945 die These, unter
dem NS-Regime seien die Richter überwiegend unpolitisch, und das heißt: nicht von
der NS-Ideologie infiziert gewesen; sie seien im positivistischen Geiste
erzogen worden, hätten sich an das neue NS-Recht gebunden gefühlt und seien
deshalb innerlich wehrlos gegenüber dem neuen Regime und seinem Recht gewesen. Diese
These, in der sich die Juristen gewissermaßen zu Opfern des Nationalsozialismus
stilisierten, ist schon deswegen nicht haltbar, weil die Gerichte das NS-Recht
häufig im Sinne der NS-Ideologie extensiv auslegten oder sogar noch –
keineswegs positivistisch – über das geschriebene Recht hinausgingen und sich
damit aktiv an der Herrschaft des Regimes beteiligten. Leider übernimmt die
Verfasserin die apologetische These Weinkauffs. Im Übrigen wäre es noch interessant
zu erfahren, ob Richter oder Bibliothekare nach 1933 aus dem Reichsgericht und
seiner Bibliothek „entfernt“ wurden, weil sie Juden oder aus anderen Gründen
missliebig waren. Bekannt ist, dass 8 von insgesamt 110 Angehörigen des
Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft wegen ihrer jüdischen Abstammung in
den Ruhestand versetzt wurden; ein Mitglied des Zivilsenats bat aufgrund seiner
Mitgliedschaft in der SPD von sich aus um die Versetzung in den Ruhestand.[2] Die
rechtliche Grundlage dieser Maßnahmen bildete das „Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums“ vom 7. 4. 1933.
Die
Verfasserin hat eine insgesamt solide, auf reichem Quellenmaterial beruhende
Untersuchung vorgelegt. Positiv hervorzuheben ist, dass sie nicht nur die
einschlägige Literatur, sondern auch Archivalien und vor allem die mündlichen
Berichte von Personen, die am Schicksal der Bibliothek nach der
Wiedervereinigung unmittelbar beteiligt waren, ausgewertet hat. Dies kommt dem
letzten Abschnitt über das Schicksal der Bibliothek nach 1990 sehr zugute. Die
Arbeit ist in erster Linie für Bibliothekare und alle an der Geschichte des
Buch- und Bibliothekswesens interessierte Leser, weniger für Juristen geeignet.
Als ein kleiner Mangel muss festgestellt werden, dass ein Abkürzungsverzeichnis
fehlt; allerdings werden in den Fußnoten benutzte Abkürzungen, soweit sie in
bibliographischen Angaben enthalten sind, im Literaturverzeichnis aufgelöst.
Heidelberg Hans-Michael
Empell