Brandt, Peter, Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt. J. W. H. Dietz, Bonn 2013. 279 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Willy Brandt wurde als Herbert Frahm in Lübeck am 18. Dezember 1913 als Sohn der unehelich geborenen Verkäuferin Martha Frahm (1894-1969, geborene Ewert, 1899 verheiratete Frahm) und des zeitweise in Lübeck unterrichtenden, bis 1947 namentlich und danach persönlich unbekannt bleibenden Hamburger Buchhalters John Heinrich Möller geboren, ab 1919 von dem 1899 die Mutter der „Frau, die (später) seine (Brandts) Mutter war“ heiratenden Kraftfahrer Ludwig Frahm (SPD, † 1935) väterlich aufgenommen und erzogen, trat unter dem Einfluss seines Stiefgroßvaters 1925 den Kinderfreunden, nach ersten publizistisch-sozialistischen Veröffentlichungen (seit 1927) 1929 der Sozialistischen Arbeiter-Jugend und 1930 der SPD bei, wechselte im Oktober 1931 zur linkssozialistischen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, legte 1932 am Johanneum sein Abitur ab, gab als Berufswunsch Journalist an und begann nach Scheitern der Aussicht auf ein Studienstipendium der SPD im Mai 1932 ein Volontariat bei dem in Maklerei, Reederei und Spedition tätigen Unternehmen F. H. Bertling. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler des Deutschen Reiches und dem Verbot der SAPD übernahm er den Auftrag, in Oslo eine Widerstandszelle gegen den Nationalsozialismus aufzubauen, legte sich (vielleicht nach dem Lübecker Schiffsausrüsterunternehmen William Brandt Wwe. ab März 1933) den Decknamen Willy Brandt zu, studierte ohne größeren Erfolg Geschichte, arbeitete publizistisch-politisch und lebte mit seiner ihm folgenden, formell mit Gunnar Gaasland verheirateten, bei den nach Norwegen emigrierten Otto Fenichel und Wilhelm Reich beschäftigten Jugendfreundin Gertrud Meyer (bis zu deren berufsbedingter Ausreise mit Reich in die Vereinigten Staaten von Amerika im Mai 1939, brieflicher Kontakt bis März 1942, neue Verbindungsaufnahme nach Kriegsende) zusammen. Am 5. September 1938 wurde er vom Deutschen Reich ausgebürgert, floh 1940 nach kurzer Haft aus Norwegen nach Schweden, heiratete die ihm (seit Weihnachten 1939 bekannte und 1941) folgende neun Jahre ältere Kulturforschungsassistentin Carlota Thorkildsen (Tochter Ninja im Oktober 1940) und erhielt im August 1940 die Staatsbürgerschaft Norwegens.

 

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kehrte er als Korrespondent für skandinavische Zeitungen nach Deutschland zurück, wurde Presseattaché der norwegischen Militärmission in Berlin und im Januar 1948 Vertreter des SPD-Vorstands in Berlin, erhielt am 1. Juli 1948 von der Landesregierung Schleswig-Holsteins wieder die Staatsbürgerschaft des Deutschen Reiches, heiratete am 4. September 1948 das im Kreis der norwegischen Exilanten Stockholms kennengelernte Arbeitermädchen Rut Bergaust (geborene Hansen) aus dem ostnorwegischen Hamar (Trennung wegen der Journalistin und Historikerin Brigitte Seebacher anfangs 1979), wurde am 4. Oktober 1948 Vater des Verfassers, ließ 1949 den Namen Willy Brandt vom Polizeipräsidium Berlin anerkennen und wurde Berliner Abgeordneter der SPD im ersten Bundestag der Bundesrepublik Deutschland. Peter Brandt blieb bei dem Wechsel seines Vaters als Bundesaußenminister und Vizekanzler nach Bonn am 1. Dezember 1966 in seiner Geburtsstadt, promovierte nach einem Studium der Geschichte an der Freien Universität Berlin 1973 über den Wiederaufbau der deutschen Arbeiterbewegung nach dem zweiten Weltkrieg am Beispiel Bremens, habilitierte sich 1988 als Assistent Reinhard Rürups mit einer Schrift über studentische Bewegungen und Frühnationalismus um 1800 und wurde 1990 Professor für neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Seinem von 1957 bis 1966 als Regierender Bürgermeister Berlins, dann als Bundesaußenminister und von 1969 bis 1974 als vierter Bundeskanzler Deutschlands wirkenden Vater, der von 1974 bis 1987 auch als Vorsitzender der SPD und von 1976 bis 1992 als Präsident der Sozialistischen Internationale fungierte, gilt die vorliegende Biographie.

 

Sie zeigt nach einem kurzen Vorwort in zehn Kapiteln Krankheit und Tod, Familie und Freunde, Arbeiterbewegung, Berliner Jahre mit Kampf um Freiheit, Sozialdemokratie im Verhältnis zu demokratischem Sozialismus, die jugendliche Protestbewegung am Ende der 1960er Jahre, den Parteipolitiker und Staatsmann, die Beziehung zu Volk und Nation, die drei politischen Weggefährten Egon Bahr, Herbert Wehner und Helmut Schmidt und am Ende Mensch und Werk Willy Brandt. Sie stellt der Sohn nach einer Anregung Robert Leichts unter die drei Begriffe Freiheit, Demokratie und Frieden. Um sie hat sich Willy Brandt, über den das zum 100. Geburtstag erschienene Werk manches Unbekannte berichtet und trotz subjektiver Einbindung die geschichtliche Objektivität wahrt, in so hohem Maße verdient gemacht, dass sich nicht nur die damals jungen Wähler über seinen Wahlsieg des Jahres 1969 sehr freuten, sondern dass ihm alle Deutschen trotz mancher persönlicher Schwächen zu dankbarer Anerkennung verpflichtet sind und bleiben.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler