Schmidt-Recla, Adrian, Kalte oder warme Hand? Verfügungen von Todes wegen in mittelalterlichen Referenzrechtsquellen (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 29). Böhlau, Köln 2011. 733 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Der Verfasser ist, soweit ersichtlich, wissenschaftlich erstmals durch seine Dissertation über Theorien zur Schuldfähigkeit (Psychowissenschaftliche Konzepte zur Beurteilung strafrechtlicher Schuldfähigkeit im 19. und 20. Jahrhundert) hervorgetreten, die eine Anleitung zur juristischen Verwertbarkeit bieten will. Seitdem hat er, anfangs vor allem mit Bernd-Rüdiger Kern, Eva Schumann und Frank Theisen, eine ganze Reihe rechtsgeschichtlicher Beiträge vorgelegt. Sie haben ihn bereits 2006 zu Parallelentwicklungen zwischen der römischrechtlichen mancipatio familiae und der fränkischen Affatomie geführt.
Aus dieser Zeit stammt auch seine Habilitationsschrift, die der Juristenfakultät in Leipzig im Sommersemester 2006 vorgelegen hat, in der sie Bernd-Rüdiger Kern und Gero Dolezalek begutachteten. In überarbeiteter Fassung ist sie 2011 in den bekannten Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte erschienen. Schon von ihrem Gewicht her verdient sie die damit indizierte Bedeutung.
In seinem kurzen Vorwort beschreibt sie der Verfasser als eine juristisch-exegetische Betrachtung historischer Rechtsquellen, die sich auf wenige, konkret umrissene Rechtsinstitute beziehen. Nach seiner Ansicht verlangt diese Charakterisierung heute nach einer Erklärung, weil Dogmengeschichte als Forschungsziel in der modernen deutschen Rechtsgeschichte überwiegend kritisch gesehen werde. Diese Einstellung erscheint dem Verfasser als so offenkundig, dass er auf Belege verzichtet.
Aus diesem Gunde schickt er die Bemerkung voraus, dass weder konstruktivistische Hybris noch Germanophilie noch Unreflektiertheit ihn leiteten. Als schlicht ausgebildeter Jurist sei er weit davon entfernt, Kontextualisierungen so abgewogen leisten zu können, dass sie dem kritischen Blick der Historiker standhalten könnten. Wo er sie vorgenommen habe, bitte er um Nachsicht der besser Wissenden, falls sie fehlgegangen sein sollten.
Andererseits habe er versucht, die Dogmengeschichte dadurch im Käfig zu halten, dass er nicht nach dem deutschrechtlichen Erbvertrag, der deutschrechtlichen Schenkung von Todes wegen gefragt oder gesucht habe. Wo sie sich unter der Hand eingeschlichen hätten und ihr „bittersüßes Lied von der Einheit des Rechts in partikularen Rechten“ angestimmt hätten, habe er dies nicht verhindern können. Deshalb bitte er die Juristen unter seinen Lesern sich selbst zu überlegen, wie sie dies unter Aufrechterhaltung seiner Fragestellung vermeiden hätten können.
Gegliedert ist das umfangreiche Werk in vier Teile mit acht Kapiteln. Dabei schildert der erste Teil den Gegenstand der Untersuchung einschließlich allgemeiner Probleme des nichtrömischen frühmittelalterlichen Rechtes, den gegenwärtigen Forschungsstand, die eigene Methodik und die terminologischen Grundlagen. In den beiden Hauptteilen werden die Verfügungen von Todes wegen im merowingisch-karolingischen Recht einerseits und im Recht des Sachsenspiegels und im Magdeburger Recht andererseits untersucht und wird danach eine abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse geboten, wobei ein beeindruckender Anhang die Einzelauswertungen der bearbeiteten Schöffenbücher versammelt.
Auslöser der Untersuchung war die im deutschen Sprachraum vor allem im 19. Jahrhundert erörterte Frage, ob der Erbvertrag bereits im mittelalterlichen Recht oder erst in der Rechtswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts geschaffen wurde. Dieser Ausgangspunkt rückte allerdings im späteren Verlauf der Bearbeitung mehr und mehr in den Hintergrund und wurde schließlich ganz aufgegeben, weil die von Georg Beseler ausgelöste Debatte vor allem um die Definition der Verfügung von Todes wegen gekreist habe, die keine sachenrechtliche Verfügung sei, sondern erbrechtlich wirke. Demgegenüber konzentrierte sich die Arbeit auf vier einzelne Sachfragen.
Erstens sei fraglich, ob weltliche Rechtsordnungen des europäischen frühen und hohen Mittelalters Verfügungen zuließen, die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme keine rechtlichen Wirkungen entfalten und erst nach dem Tode des Verfügenden (und damit von kalter Hand) wirksam werden. Zweitens sei zu untersuchen, ob ein Einzelner sein zum Zeitpunkt seines Todes vorhandenes Vermögen durch (kalthändige) Verfügung von Todes wegen den geborenen Erben ganz entfremden, eine etwaige Familienverbindung des Vermögens durchbrechen und dem Begünstigten eine Stellung einräumen konnte, wie sie auch ein geborener Erbe des Verfügenden inne hatte. Hierher gehöre dabei auch die Frage, ob ein Einzelner sein zum Zeitpunkt seines Todes vorhandenes Vermögen mittels einer zielgerichteten Auswahlentscheidung einem oder mehreren geborenen Erben zuwenden und damit anderen vorhandenen, geborenen Erben entfremden konnte.
Drittens sei fraglich, wie solche Verfügungen vorgenommen werden konnten. Viertens sei zu prüfen, was Gegenstand solcher Verfügungen sein konnte. All dies lasse sich im Grunde zu der Fragestellung zusammenfassen, ob und wenn ja wie und worüber nach mittelalterlichem Recht postmortal verfügt werden konnte.
Den bisherigen Forschungsstand schildert der Verfasser ausgehend von Tacitus und der darauf aufbauenden These, dass Sippenerbrecht gewillkürte Erbfolge ausschließe, wodurch die Begriffe Erblasser, Erbe und Erbrecht entbehrlich würden. Im eigenen Forschungsansatz verbindet der Verfasser normative Rechtsquellen mit Rechtstatsachenforschung und grenzt Untersuchungsgebiet und Untersuchungszeitraum angesichts der Fülle des insgesamt vorhandenen Materials ansprechend ein. Hinsichtlich seiner terminologischen Grundlagen konzentriert er sich auf Testament, Erbvertrag, Vergabung, Verfügung und Verfügung von Todes wegen, die freilich vom Deutschen Rechtswörterbuch im Text überwiegend noch nicht erfasst sind.
Im vierten Kapitel behandelt der Verfasser die Verfügungen von Todes wegen im merowingisch-karolingischen Recht. Als normative Rechtsquellen erfasst er die Affatomie im der Lex Salica, die Affatomie in der Lex Ribuaria, die freie Verfügung nach der Lex Thuringorum, Kapitularien und Rückschlüsse aus dem Mühlhäuser Reichsrechtsbuch sowie dem Kleinen Kaiserrecht. Empirische Rechtsquellen sind einige Formulare, Urkunden, die Kölner Schreinsurkunden und der Rotulus von Andernach bei Bonn.
Im dritten Teil wendet sich der Verfasser den Verfügungen von Todes wegen im Verbreitungsgebiet des Sachsenspiegels und des Magdeburger Stadtrechts zu. Für das sächsische Landrecht beginnt er mit Titel 62 der Lex Saxonum, an den er den Sachsenspiegel, das Görlitzer Rechtsbuch, das Burger Landrecht und das Meißener Rechtsbuch nach Distinktionen anfügt. Für das Stadtrecht des Magdeburger Rechtskreises verbindet er normative Rechtsquellen von Magdeburg, Görlitz, Freiberg, Zwickau und Eisenach und greift hinsichtlich der Rechtstatsachen auf Neuhaldensleben, Aken/Elbe, Halle an der Saale, Zerbst, Calbe, Burg, Treuenbrietzen, Brandenburg, Bautzen, Görlitz, Böhmisch-Kamitz, Dux, Zipser Neudorf, Breslau und Magdeburg aus.
Nach sorgfältiger Überprüfung bejaht er die Frage, ob das weltliche merowingisch-karolingische und das sächsische Recht des frühen und hohen Mittelalters Verfügungen zuließ(en), die zum Zeitpunkt ihrer Vornahme auf Seiten des Begünstigten kein wirksames Recht entstehen ließen, wenn auch den normativen Rechtsquellen ein eindeutiges positives Bekenntnis zur Erlebensbedingung nicht durchweg abgewonnen werden konnte. Allerdings hält er zu diesem Ergebnis einschränkend fest, dass sich die postmortale Verfügungsfreiheit, wie sie in den untersuchten Quellen gefunden wurde, nicht anthropologisch verallgemeinern lässt, so dass sich der Befund der Quellen nicht in Richtung einer germanischen postmortalen Verfügungsfreiheit übertragen und ausweiten lässt. Zur zweiten Frage hat sich für ihn ergeben, dass der Verfügende in der Auswahl der Begünstigten in der Praxis der untersuchten Städte frei war, dass aber bis in das späte Mittelalter nicht von einer gewillkürten Erbfolge im Sinne von auf Erbeinsetzung beruhender, gewillkürter Universalsukzession gesprochen werden kann.
Die dritte Frage kann der Verfasser kurz dahin beantworten, dass stets ein publiker, formgebundener Akt erforderlich war, wenn auch die Formgebundenheit nicht die postmortale Verfügungsfreiheit verneine. Für die vierte Frage hat sich dem Verfasser gezeigt, dass Sachen, Sachen und Rechte oder Sachgesamtheiten in allen untersuchten Rechten des Mittelalters die Verfügungsgegenstände abgaben und ausdrückliche Erbeinsetzungen seit dem Verschwinden der römischen Formularien aus den merowingischen Urkunden nicht mehr vorkamen und in den Massenquellen nicht vorhanden sind. Nach der Ansicht des Verfassers darf dabei nicht übersehen werden, dass beide Rechte die praktische Möglichkeit kannten, ein gesamtes Vermögen (den Nachlass) bereits vorher zum Gegenstand einer Verfügung zu machen.
Im achten Kapitel dokumentiert der Verfasser eindrucksvoll alle in der Untersuchung ausgewerteten Sammelquellen nach einem einheitlichen Gliederungsschema. Ein von Aachen bis Zwickau reichendes Orts- und Personenregister sowie ein sich von abrenutiatio bis Zinsregister erstreckendes Sachregister schließen das Werk angenehm auf. Insgesamt kehrt der Verfasser mit seiner interessanten und selbständigen, wenn auch vereinzelt angreifbare Wendungen enthaltenden Arbeit zwar nicht das gesamte ältere Erbrecht vollständig um, kann aber doch bisher in dieser Weise noch nicht gesehene flexible Lösungsmöglichkeiten für naheliegende Interessengegensätze bei der Güterzuordnung und praktisch lebensnahen Schwierigkeiten nachweisen, so dass die künftige erbrechtsgeschichtliche Forschung durch ihn eine wichtige neue Grundlage für die ältere Zeit erlangt haben dürfte.
Innsbruck Gerhard
Köbler