Müller, Rolf-Dieter,
Hitlers Wehrmacht 1935-1945 (= Beiträge zur Militärgeschichte -
Militärgeschichte kompakt Band 4). Oldenbourg, München 2012. 224 S., 29 Abb.,
Tab. Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als dem Hauptinstrument der gewaltsamen Expansionsbestrebungen des Dritten Reiches ist der deutschen Wehrmacht die kontinuierliche Aufmerksamkeit der Forschung sicher. Die Wahrnehmung der Institution in der Öffentlichkeit erhielt vor allem ab Mitte der 1990er Jahre durch die weithin Aufsehen erregenden Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die das Bild der (weil im Gegensatz zur Schutzstaffel in Nürnberg in ihrer Gesamtheit nicht pauschal verurteilten) „sauberen“ Wehrmacht durch das einer verbrecherischen Organisation zu ersetzen schienen, einen deutlichen Impetus. Mit dem 2008 abgeschlossenen, vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) herausgegebenen Monumentalwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ (10 Bde, 1979-2008) liegt inzwischen eine differenzierte, umfangreiche und verlässliche Materialbasis zur Militärgeschichte des NS-Regimes vor, die eine laufende Erweiterung durch verschiedene Detailstudien erfahren hat und weiter erfährt. Es ist daher nur zu begrüßen, dass der Leiter des Forschungsbereichs „Zeitalter der Weltkriege“ am MGFA in Potsdam, Rolf-Dieter Müller, auf kompakten 224 Druckseiten nunmehr das aktuelle Level des Wissens zusammenfasst und unter Berücksichtigung einer größtmöglichen thematischen Breite darstellt.
Einer Erörterung des Forschungsstands folgt zunächst ein Kapitel zur Positionierung der Armee im totalitären Führerstaat, bevor die Streitkräfte selbst - also Heer, Luftwaffe, Kriegsmarine und Waffen-SS, daneben aber auch ausländische Legionäre, das Wehrmachtsgefolge und die Bundesgenossen – vorgestellt werden. Weitere Abschnitte befassen sich mit Ausbildung und Kampferfahrungen in der Wehrmacht, ihrer Verortung in der NS-„Volksgemeinschaft“, mit der Kriegswirtschaft und dem Vernichtungskrieg. Erst abschließend geht der Verfasser auf 45 Seiten kursorisch auf die klassische Kriegsgeschichte, also auf die einzelnen Feldzüge, ein, bevor ein knapper Epilog das „schwierige Erbe“, sprich: das Nachwirken der als Organisation 1945 aufgelösten Wehrmacht im Deutschland der Nachkriegszeit, anspricht.
Dank seiner ausgewogenen, eine weit gestreute Palette von Aspekten berührenden Konzeption und seiner klaren Sprache eignet sich dieser Band vorzüglich für jedermann, der sich rasch einen qualifizierten Einblick in die Thematik verschaffen will. Wesentliche Ursachen für das letztendliche Versagen der Wehrmacht sieht der Verfasser, darin ganz der Forschungstradition folgend, unter anderem in der inhomogenen Führungsstruktur, im Ressortegoismus der Teilstreitkräfte (beides „kein typisch deutsches Phänomen und kein Spezifikum der Wehrmacht im Dritten Reich“, aber „im Zweiten Weltkrieg zur politischen Entmachtung des Militärs und zur Durchsetzung eines absoluten politischen Primats“ führend, S. 27) und in der trotz aller gegensteuernden Bemühungen, vor allem ab 1942 unter Rüstungsminister Albert Speer, immer stärker schlagend werdenden Ressourcenunterlegenheit der deutschen Wehrwirtschaft. Eine höchst effiziente taktische Ausbildung im Heer, auf der die erstaunlichen Erfolge der ersten Kriegsphase gründen, und in den Generalstäben „die Überbetonung des ‚operativen Gedankens‘ auf allen Ebenen“ gingen zudem einher mit einer Vernachlässigung der logistischen Komponente ebenso wie mit einer Ratlosigkeit in Fragen der Strategie; jene wurde „selbst in den höchsten militärischen Bildungseinrichtungen nicht gelehrt“ (S. 61f.). Skurril und menschenverachtend lesen sich die Maßnahmen der Personalrekrutierung im Angesicht der drohenden Niederlage: „Anfang 1945 verfügte die Wehrmacht über 45 Magenbataillone, außerdem über elf Ohrenbataillone aus Schwerhörigen und Patienten mit eiternden Mittelohrentzündungen“, die sich „nach kurzer Zeit ‚völlig abgestumpft‘ zeigten, obwohl man sie besonders energischen Frontoffizieren mit gesunden Mägen unterstellt hatte. […] Selbst die Erschießung von Einzelnen durch die Offiziere machte auf die Masse keinen Eindruck“ (S. 93).
Aus juristischer Sicht ist der knapp drei Druckseiten umfassende Abschnitt zum Thema „Recht im Unrechtsstaat? Das Elend der deutschen Militärjustiz“ (S. 33-37) zu beachten, dem der sogenannte „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ vom 13. Mai 1941, der den Verfolgungszwang bei Straftaten von Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten sowjetischen Gebieten aufhob, und eine jährliche, den Zeitraum von 1940 bis 1944 umfassende und nach Heer (gesamt), Armeen, Kriegsmarine, Luftwaffe und Wehrmacht getrennte, zahlenmäßige Auflistung der gegen Wehrmachtsangehörige ausgesprochenen Todesurteile beigestellt worden sind. Manfred Messerschmidt („Die Wehrmachtjustiz 1933 bis 1945“, 2005) referierend, konstatiert Rolf-Dieter Müller die „sich in Etappen, aber reibungslos“ vollziehende „Anpassung der Wehrmachtjustiz an die ideologisierte Rechtsentwicklung im Nationalsozialismus“ (S. 34). Dem Reichskriegsgericht als höchster Instanz waren Kriegsgerichte nachgeordnet, die im Auftrag des als „Gerichtsherr“ agierenden Divisionskommandeurs Strafsachen verhandelten. Dabei ließen sich „bei insgesamt etwa 3000 Wehrmachtsjuristen durchaus Beispiele für individuelle Handlungsspielräume und Einstellungen anführen“, wobei die „Chefrichter“ des Heeres und der Luftwaffe, Karl Sack und Christian Freiherr von Hammerstein-Loxten, positive Erwähnung finden. Allerdings - wie Müller, nicht wirklich überzeugend, festhält - machten „für die Objekte der Wehrmachtjustiz […] solche individuellen Ausprägungen bei den verantwortlichen Juristen keinen gravierenden Unterschied“ (S. 36), wurden doch insgesamt rund 500.000 Soldaten kriegsgerichtlich verurteilt und mindestens 20.000 Todesurteile vollstreckt (im gesamten Ersten Weltkrieg waren nur 150 deutsche Soldaten zum Tod verurteilt und davon nur 48 hingerichtet worden). Bemerkenswert ist, dass „bis in die Schlussphase des Krieges […] politische Delikte und Straftaten wie Fahnenflucht die Ausnahme im Alltag der Kriegsgerichte“ blieben und die Desertion „ein Randphänomen, das weniger als ein Prozent der Soldaten umfasste“, laut Verfasser „vermutlich […] die geringste Desertionsrate in der gesamten deutschen Militärgeschichte“ (S. 35 und 37).
Ausgestattet ist der handliche Band mit zwei jeweils auf der Innenseite der Einbanddeckel applizierten, farbigen Karten, welche die deutschen und die alliierten Operationspläne im Westfeldzug 1940 bis auf die Armee-Ebene herab sowie den Frontlinienverlauf im Osten von November 1942 bis April 1945 auch für militärische Laien gut nachvollziehbar darstellen. 29 zweckmäßig gewählte Abbildungen und eine Reihe weiterer, aussagekräftiger Grafiken und Tabellen in Blauschattierung verleihen zusammen mit dem informativen Text der dargestellten Organisation, die mit insgesamt 5,2 Millionen toten Soldaten „nahezu jede(n) Dritte(n)“ seinen Einsatz mit dem Leben bezahlen ließ (S. 90), die erwünschte Plastizität.
Kapfenberg Werner Augustinovic