Hein, Bastian, Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 92). Oldenbourg, München 2012. XIII, 356 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit dem Untergang des deutschen Kaiserreichs und den Wandlungen und Unsicherheiten der dem Ende des Ersten Weltkriegs folgenden Jahre fanden sich viele deutsche Männer unversehens in einer multiplen Krise: Verlustig ihrer tradierten Rollen als wehrhafte Soldaten, gute Christen und treue Untertanen, bedroht von Arbeitslosigkeit, Frauenemanzipation und den zunehmend offeneren Debatten um die lange tabuisierte Homosexualität, schien ihnen die Schutzstaffel (SS) der Nationalsozialisten ein geeignetes Surrogat und festen Boden im Angesicht jenes Einbrechens traditioneller Werthorizonte anzubieten. Zeitweilig beeindruckende 400.000 Mann sollte schließlich die Zahl jener 1930 nur 3000 bis 4000, damals noch der Sturmabteilung (SA) unterstellten „Amateure“ der Allgemeinen SS betragen, die in Analogie zu den militärischen Reservisten bzw. den heutigen Angehörigen von Milizarmeen oder Einsatzorganisationen neben ihrem Beruf freiwillig Dienst in ihrer Freizeit taten. Aus diesem Potential sollten in weiterer Folge die ab 1934 professionalisierten Sondereinheiten der Schutzstaffel, die Totenkopfverbände und die später zur Waffen-SS erweiterte Verfügungstruppe, in erster Linie ihr Personal schöpfen.

 

Der 1974 geborene Bastian Hein, der sich 2011 mit dem Manuskript der vorliegenden Schrift an der Universität Regensburg für das Fachgebiet Neueste Geschichte/Zeitgeschichte habilitieren konnte und neben seiner Tätigkeit als Studienrat in Rosenheim nun als Privatdozent lehrt, identifiziert die Schutzstaffel in Widerspruch zu älteren Forschungsmeinungen vor allem Michael Katers und in terminologischer Anlehnung an Christopher Browning und Daniel Noah Goldhagen als „eine Ansammlung ‚ganz normaler Männer’“ und als „’ganz gewöhnliche Deutsche’, die eine spezifische soziokulturelle Prägung besaßen“, die von den eingangs erwähnten Krisen der Männlichkeit maßgeblich mitbestimmt wurde. „Der Nationalsozialismus, der die Schaffung einer neuen, harmonischen ,Volksgemeinschaft’ in Aussicht stellte, eine klare Führungsstruktur und einen mit annähernd religiöser Intensität verehrten ‚Führer’ besaß und die in weiten Kreisen populären Anliegen des Antikommunismus und des Antisemitismus nicht nur verbal, sondern radikal gewalttätig vertrat, erschien vielen Deutschen in dieser Lage als vielversprechendes Angebot“ (S. 306f.). Diese Verankerung in der Mitte der Gesellschaft vermochte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs der Masse der SS-Angehörigen eine relativ friktionsfreie Eingliederung in die Nachkriegsordnung zu gewährleisten.

 

Die Attraktivität der Allgemeinen SS fußte, wie Bastian Hein zeigen kann, nicht unwesentlich auf einer geschickten, seit 1934 forcierten und vor allem über Gunter d’Alquens ab Februar 1935 wöchentlich publiziertes SS-Presseorgan „Das Schwarze Korps“ auch medial prominent lancierten Imagepflege, die für manchen Zeitgenossen jene „im Vergleich zur SA“ als „die weitaus sauberste und einwandfreiste der beiden“ (S. 112) erscheinen ließ. Reichsführer-SS Heinrich Himmler verordnete seiner Schutzstaffel zudem Vorgaben, die in eine rigorose Auslese nach „rassischen“, „erbgesundheitlichen“ und Zuverlässigkeitskriterien sowie in ein standardisiertes Aufnahmeverfahren münden sollten, aber in der Praxis auf Widerstand stießen und zudem dem Ideal der propagierten, homogenen NS-„Volksgemeinschaft“ diametral entgegenstanden. Die „Camouflage des gegenüber den eigenen ‚Volksgenossen’ praktizierten Rassismus“ (S. 149) machte es schließlich 1938/39 erforderlich, den Begriff der „rassischen Musterung“ durch die neutraleren Termini „Annahmeuntersuchung“ bzw. „SS-Eignungsuntersuchung“ zu ersetzen, und selbst Himmler gestand, seine eigenen Forderungen konterkarierend, öffentlich ein: „Es darf nicht so sein, dass irgendeiner, der von sich aus glaubt, äußerlich eine besonders erwünschte rassische Erscheinung zu haben, sich nun wertvoller und besser dünkt als irgendein anderer, der meinetwegen dunkles Haar hat. Würden wir das zulassen, dann wäre die Folge, dass in kürzester Zeit anstelle des überwundenen sozialen Klassenkampfes ein rassischer Klassenkampf entstehen würde“ (S. 149). Auch die über den SS-eigenen Verein „Lebensborn“ initiierten, bevölkerungpolitisch-erzieherischen Maßnahmen zeigten nicht die angestrebte Resonanz; „Ende 1938 waren noch immer 57% der Mitglieder der Allgemeinen SS ledig, nur 26% waren überhaupt Väter, und lediglich acht Prozent hatten die Zielvorgabe von vier Sprösslingen erreicht“, Werte, die „erheblich unter dem Reichsdurchschnitt“ lagen (S. 210).

 

Noch mehr als die Imagepflege sorgten wohl auch die handfesten „Fürsorgeleistungen […], die deutlich über das hinaus gingen bzw. zusätzlich zu dem gewährt wurden, was normale deutsche ‚Volksgenossen’ an staatlichen Leistungen bzw. von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt erhielten“ (S. 204), vor allem die Maßnahmen zur Arbeitsvermittlung, für Zulauf beim Orden. Einen Auswuchs stellt die Causa Karl Wolff dar, in deren Zusammenhang der Verfasser von „korrupte(r) Vorteilnahme“ (S. 203) spricht, konnte sich dieser doch 1936, kurz nach seiner Beförderung zum Chefadjutanten Himmlers, mit dessen Schützenhilfe und großzügiger finanzieller Unterstützung ein feudales Anwesen am Tegernsee schaffen. Allerdings hat dieser Einzelfall bestenfalls illustrativen Charakter und reicht nicht aus, um das Ausmaß möglicher Korruption in den Reihen der SS adäquat abzubilden und eine vergleichende Einordnung in die allgemeine Präsenz dieses Missstandes zu ermöglichen.

 

Folgt man dem Verfasser, muss die Titelfrage nach der Elitefunktion des „Schwarzen Ordens“ differenziert beantwortet werden: Elitär sei seine Rolle „im Bezug auf die vielfältigen und zentralen Funktionen, die ihre Mitglieder im Dienst Hitlers bei der Eroberung, Sicherung und Ausübung der Macht […] ausübten“, sowie bei der „Mobilisierung und Disziplinierung der deutschen Gesellschaft“ gewesen, nicht hingegen „hinsichtlich ihrer tatsächlichen Sozialstruktur“ und „was die weltanschaulichen, ‚rassischen’ und körperlichen Auslesekriterien anging, die die SS-Führung postulierte“ (S. 313). Zentrale Bedeutung bei der Konstruktion eines elitären Images kam wohl den umfassenden Anstrengungen zur weltanschaulichen Ausrichtung und „Erziehung“ der SS-Leute zu, die sich in einem eigenen Disziplinarwesen, einem Belohnungssystem, einer Schulungsorganisation und einem eigens kreierten Kanon an Festen und Feierlichkeiten manifestierten. Solchermaßen indoktriniert, fungierten die Männer der Allgemeinen SS durchaus als Speerspitze des Systems, im Sinne Ian Kershaws Begriff der „charismatischen Herrschaft“ stets dem „Führer“ entgegenarbeitend und einer kumulativen Radikalisierung nicht nur das Wort redend. Untersuchungen von Ruth Bettina Birn, Karin Orth oder René Rohrkamp hätten deutlich gemacht, dass ihnen sowohl im Korps der Höheren SS- und Polizeiführer, im Konzentrationslagersystem und auch in der Waffen-SS die prägende „Funktion einer Kernmannschaft“ mit „mörderische(m) Potenzial“ (S. 311) zukam.

 

In ihrer Gesamtheit vermittelt die mit allen notwendigen Nachweisen versehene, durch einige Abbildungen aufgelockerte und über ein Personenregister erschließbare, ältere Forschungspositionen ergänzende oder revidierende Studie einen prägnanten und komplexen Einblick in die Sozialstruktur, das Selbstverständnis, die Lebenswelt und das Wirken der Allgemeinen SS als Aufwuchsbasis eines sich zunehmend spezialisierenden SS-Apparates. Von der jüngst erschienenen, deutlich umfangreicheren und vorwiegend aus biographischen Quellen schöpfenden Arbeit Christiane Rothländers über „Die Anfänge der Wiener SS“ (2012) unterscheidet sich Bastian Heins Werk durch sein breiteres und vielfältigeres Materialfundament, welches ihm in der Deutung eine stärkere inhaltliche Fokussierung ideologischer Komponenten erlaubt. Aus juristischer Sicht ist der Abschnitt über das SS-Disziplinarwesen (S. 191ff.) herauszuheben, das, „Himmlers Widerwillen gegen streng regelförmiges, quasi legalistisches Vorgehen“ folgend, „keinen verbindlichen, schriftlich fixierten Kanon von Regeln, Befehlen, Richtlinien“ und auch „keine Zuordnung bestimmter Tatbestände zu bestimmten Sanktionen“ kannte (S. 195f.). Es sei, wie konkrete Beispiele auswiesen, im Übrigen „keineswegs von rigoroser Härte“, sondern, „wie die Parteigerichtsbarkeit der NSDAP insgesamt, von einer Tendenz zur Milde geprägt“ gewesen (S.199). Für diese Ausrichtung seien opportunistischer Utilitarismus (Armin Nolzen), Himmlers Hang zu spontanen Einzelfallentscheidungen (Peter Longerich), eine Kontinuität zur „Ganovenmoral“ der „Kampfzeit“ (Hans Buchheim), erzieherische Überlegungen oder Kombinationen dieser Faktoren jeweils von Fall zu Fall als dominante Triebfedern fassbar.

 

Kapfenberg                                         Werner Augustinovic